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Ein Mann und eine Frau passieren in Berlin das frühere Notaufnahmelager Marienfelde. (Archivbild)

© picture-alliance/ dpa/Peer Grimm

Flucht, Spione, Kalter Krieg: Notaufnahmelager Marienfelde eröffnete vor 70 Jahren in Berlin

Am 14. April 1953 nahm das Notaufnahmelager Marienfelde im amerikanischen Sektor in Berlin seine Arbeit auf. Es war mehr als nur eine Unterkunft.

Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Der französische Geheimdienst war kühl, der britische desinteressiert, die CIA recht menschlich. Dann kam das Verhör beim Bundesnachrichtendienst. „De facto war das eine Inquisition“, sagt die Berlinerin Karla Kühne über ihre Befragung im Notaufnahmelager Marienfelde nach der Flucht aus der DDR vor 45 Jahren. Der Fluchtweg, die Farbe des Autos, die Beschreibung des Fahrers, jedes Detail wollte der Mann wissen. „Der hat mich sauer gekocht.“ Die 77-Jährige wird noch heute emotional. Marienfelde, das war für sie eine bittere Erfahrung.

Die Verhöre durch die Geheimdienste gehörten zum Aufnahmeverfahren in dem Lager am südlichen Rand von West-Berlin, das vor 70 Jahren – am 14. April 1953 – von Bundespräsident Theodor Heuss eröffnet wurde. Es war der Versuch, die Fluchtbewegung aus der DDR über die offenen Sektorengrenzen Berlins in geregelte Bahnen zu lenken. Allein 1953 kamen 200.000 Menschen. Der SED-Staat bremste den Aderlass erst mit dem Mauerbau 1961, stoppte ihn aber nie ganz. Bis 1990 passierten 1,35 Millionen Ostdeutsche Marienfelde.

Die Bundesrepublik nahm die Menschen auf, versorgte sie und brachte sie unter. Sie profitierte von den vielen Arbeitskräften und Talenten und durfte sich ideologisch überlegen fühlen angesichts dieser „Abstimmung mit den Füßen“. Aber automatisch lief die Aufnahme nicht. Die Ankommenden erhielten einen Laufzettel mit diversen Stationen, von der ärztlichen Untersuchung über die Kleiderkammer bis hin eben zu den Geheimdiensten der Westalliierten und der Deutschen. Nur wer alle Hürden genommen hatte, konnte ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht beantragen.

Stasi-Agenten als Flüchtlinge getarnt

Karla Kühne zwängte sich 1978 mit ihrer damals zehnjährigen Tochter und einem weiteren Flüchtling in den Kofferraum eines Autos mit Diplomatenkennzeichen und kam auf diese Weise von Berlin-Mitte über den amerikanischen Checkpoint Charlie nach Berlin-Kreuzberg. Sie wusste, dass sie nach Marienfelde musste, aber sie war gewarnt. Dort sei überall Stasi, hatte sie gehört.

Der DDR-Geheimdienst sollte auf keinen Fall von der funktionierenden Fluchtroute erfahren. Deshalb übte Kühne mit ihrem Fluchthelfer alternative Fakten. Sie sei auf der Transitroute durch die DDR bei Michendorf in ein Auto gestiegen und so nach West-Berlin gelangt, sollte sie sagen. Auch ein falsches Fluchtdatum sollte sie nennen. Beim Verhör durch den deutschen Geheimdienstler kam Kühne dennoch ins Schwitzen. Er bohrte und bohrte, bis sie doppelbödig sagte: „Ich fühle mich jetzt wie zu Hause.“ Bis heute ist sie überzeugt, dass der Mann Zuträger der Stasi war.

Mit diesen zwiespältigen Erinnerungen ist sie nicht allein. Von Weitem habe Marienfelde gewirkt wie ein „Symbol der Freiheit“, erzählt Wilfried Seiring auf dem Zeitzeugenportal des Deutschen Historischen Museums von seiner Ankunft 1957. „Tatsächlich war es sehr ernüchternd, denn es stand eine Schlange vor der Tür, man musste sich anstellen. Man wurde auf Plakaten aufgefordert, nicht zu viel zu erzählen, denn unter den Flüchtlingen hätten auch Agenten der DDR sein können, was auch der Fall war. Man war also in einer merkwürdigen, ambivalenten Situation.“

Westliche Geheimdienstler mit eigenen Interessen

Mögliche DDR-Spitzel waren das eine. Doch hatten auch die westlichen Geheimdienste eigene Interessen. Alle suchten Informationen aus dem Inneren der DDR, wie der Historiker Manfred Wichmann im neuen Buch „Flucht und Ankommen“ über das Lager Marienfelde schreibt.

Seiring, vor der Flucht Student in Greifswald, wurde vom CIA-Beamten gefragt, wo die Rote Armee und die Volkspolizei in der Hansestadt stationiert waren. Der junge Mann war nach eigenen Worten ahnungslos – anders als der Geheimdienstler, der einen Lageplan der Stadt herausholte und offenbar nur die Bestätigung schon vorhandener Informationen wollte.

Auch Karl-Heinz Brunk, 1960 in Marienfelde, erinnert sich, dass die Vernehmer Druck aufbauen konnten. „Man musste einen Stempel haben, dass man da gewesen ist“, sagt Brunk auf dem Zeitzeugenportal. „Wenn du die entsprechenden Stempel hattest, bekamst du deine Essensmarke, bekamst du was zu essen. Und wenn da irgendwelche Stempel fehlten, dann musstest du auf das Essen warten.“ Der letzte Posten auf dem Zettel war die „Abflugstelle“: Die meisten Menschen wurden aus West-Berlin auf die westlichen Bundesländer verteilt.

Zeitweise waren die für 1200 Menschen ausgelegten 15 Wohnblocks in Marienfelde völlig überfüllt, doch das war mit dem Mauerbau vorläufig zu Ende. Die westdeutschen Behörden nutzten das Lager nun als Zentrale Aufnahmestelle für Aussiedler. Nach dem letzten großen Andrang aus der DDR in den 1980er Jahren endete die Notaufnahme offiziell mit der Deutschen Einheit 1990. Seit 2010 leben Geflüchtete aus anderen Ländern in Marienfelde. (dpa)

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