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Flughafen BER: Sperenbergs verflogene Chancen

Berlins neuer Flughafen BER ist noch nicht eröffnet, da taucht schon wieder ein vertrauter Name als Alternative auf: Sperenberg. Was ist dort los?

Die interessantesten Nachrichten aus Berlin überbringt der Markthändler, der zweimal die Woche von dort anreist. Gelegentlich treffen sie verspätet ein. Zum Beispiel die hier: Die „Briefe aus der Reichshauptstadt“ lese er gerade, sagt der Mann, geschrieben vom Großkritiker Alfred Kerr in den Jahren 1895 bis 1900, 750 Seiten dick, schwer wie ein Brikett. Und im ersten Drittel dieses Buches, da stehe etwas Unglaubliches. Er vermag die Stelle jetzt nicht auswendig vorzutragen, nur sinngemäß, es gehe um den Kanzlerkandidaten der SPD, um das wiedervereinigte Deutschland und um die Griechen. Als er das gelesen hatte, sagt er, konnte er nur zu dem Schluss kommen: Entweder Geschichte wiederholt sich, oder aber sie steht still.

Für den Ort, an dem er gerade seinen Marktstand aufgebaut hat, trifft beides zu. Er liegt in Brandenburg, südlich von Berlin, und er heißt Sperenberg. Ein Dorf mit 1600 Bewohnern, die nun wieder etwas auf sich zukommen sehen, was längst vergangen schien.

Harry Rehm, wohnhaft im Hauptstadtbezirk Reinickendorf, wacht einsam an der Sperenberger Hauptstraße. Er hat Feinstrickstrumpfhosen im Angebot, Nachtwäsche, Jacken, Pullover. In einer Bananenkiste drängen sich Romanhefte. Ganz vorn steht „Amore“, Band 103, dahinter „Geliebte Mutti“, „Ergreifende Kinderschicksale“, „US-Western“. Kittelschürzen hat Rehm vor einiger Zeit aus dem Sortiment genommen, die Nachfrage ist stark gesunken in den vergangenen Jahren, die Generation dafür ist ausgestorben. Rehm selbst trägt Fleecejacke, denn es ist kalt an diesem Morgen.

„Nichts los“, sagt er. Er sagt es zum Sperenberger Ortsvorsteher, der kurz vorbeigekommen ist, um nach dem Rechten zu sehen. „Die Jahreszeit“, sagt Rehm, „außerdem ist Monatsende.“ Dann spricht er von dem dicken, schweren Buch bei sich zu Hause. „Was der Kerr da schreibt, das stimmt alles.“

Tatsächlich. Wer „Briefe aus der Reichshauptstadt“ aufschlägt, der stößt auf Folgendes, Seite 242: „Doch wie ein Sozialdemokrat, der in der Lotterie gewinnt, ein Bourgeois wird: also wurden wir wurstig, seitdem man uns geeinigt hat. Unsere Wurstigkeit ist ein schönes Zeichen für die politische Erstarkung.“ Steinbrück! Deutschlands immer noch irgendwie neue, größere Rolle in der Welt! Und jetzt, Achtung, Europas Schuldenkatastrophe: „Die Griechen ..., blutige Pleitemacher ... Mit der ganzen Ungerechtigkeit, welche in Pauschalurteilen liegen kann, zeiht man dieses edle Herrenvolk der grundsätzlichen Mogelei beim Spiel. O unerhörte Rohheit – aber es ist so.“

Von einem großen Flugplatz indes schreibt Kerr nichts. Das taten zuletzt Brandenburger Ministerialbeamte, die nach eingehender Untersuchung dreier Standorte zu dem Ergebnis kamen, Sperenberg sei für so etwas grundsätzlich geeignet. Das war Ende 1994. In den Jahren zuvor war der Ort bereits in die engere Auswahl möglicher Flugplatzkandidaten gekommen, sein Name war präsent in den Zeitungen, Parlamenten und Einwohnerschaften Berlins und Brandenburgs. Überall bestand weitgehende Einigkeit, dass ein Flugplatzneubau nötig sei. Wenn gestritten wurde, dann vor allem über dessen bestmögliche Lage. Schönefeld jedenfalls kam für die Planer 1994 nicht infrage. Gebaut wurde dann aber trotzdem dort.

Die Jahre vergingen. Ein Jahr, zwei Jahre, drei, 17. Sperenberg als Chiffre für Flughafenpläne verschwand aus den Köpfen. Es wurde wieder zu einem wenig beachteten Dorf im Fläming. Bis sich schließlich und flächendeckend die Erkenntnis durchsetzte, dass der Neubau in Schönefeld unerwartet laut werden würde, dass er möglicherweise schon kurz nach seiner Eröffnung zu klein sein könnte, und dass noch etliches andere nicht zum Besten stehe bei diesem Bauwerk, bis hin zu laut vorgetragenen, grundsätzlichen Zweifeln, ob es sich überhaupt eigne für den Zweck.

Im Januar dieses Jahres demonstrierten tausende Berliner gegen den Flughafen Schönefeld und für eine Neuplanung in Sperenberg. Im Februar forderten Führungskräfte der Brandenburger CDU, Sperenberg als „Ergänzungsstandort in ein wirtschaftliches und arbeitsplatzträchtiges Entwicklungskonzept zum Flughafen BER einzubeziehen“. Im Frühjahr trugen Menschen auf Großkundgebungen vor: „Verhinderung der Entwidmung von potenziellen Flughafenstandorten, jetzt speziell Erhalt der Option Sperenberg“. Im Bundestag wurde der Name wieder in den Mund genommen, im Berliner Abgeordnetenhaus fiel er, im Lauf einer Debatte, in der auch vom „Ansehen der Stadt in ganz Deutschland und im Prinzip in der ganzen Welt“ die Rede war. Sperenberg war wieder da. Ein bisschen zaghafter als Mitte der 90er Jahre zwar, aber dennoch nicht zu ignorieren. Die Geschichte wiederholte sich, oder – je nach Erfahrungshorizont – sie stand still.

Und? Nichts und. In Sperenberg, dessen Bewohner vor 18 Jahren in Gegner und Verfechter eines Flughafens in ihrer Nähe gespalten waren, zuckt man angesichts dieser Neuigkeiten heute einhellig die Schultern. Man hat Besseres zu tun.

Harry Rehm zum Beispiel hat jetzt Kundschaft. Der Ortsvorsteher muss weiter. Frau Hanack macht sich bereit für einen Gang in die Kirche. Die Holländer meißeln. Die Greulichs kochen Kaffee. Und die Mitglieder des Heimatvereins heizen den Dorfbackofen vor.

Backe, backe Kuchen,

wir wollen es versuchen,

singen laut ein „Danke schön“,

weil wir fleißige Handwerker sehn.

Edith Hanack hat das geschrieben, es ist die erste Strophe aus ihrem „Dorfbackofenlied“. Im Dorfbackofen wird an diesem Nachmittag Brot gebacken werden und selbst gemachter Kuchen aufgewärmt. Die Leute werden Herbstfest feiern. Doch Edith Hanack, Jahrgang 1935, geboren in Sperenberg, und zwar in jener Stube, die heute ihr Schlafzimmer ist, wird nicht hingehen können. Sie ist schon anderswo eingeladen. In der Kirche ist nämlich Chorkonzert.

Drei Chöre sind da, der ortsansässige, einer aus der Stadt Baruth und einer aus Berlin. Das Publikum ist auch schon anwesend, die Sitzreihen sind voll. Edith Hanack wird an ihnen vorbeigeführt. Sie soll in der ersten Reihe sitzen. Es ist ihr ein wenig unangenehm. Aber sie ist nun einmal ein besonderer Gast an diesem Tag, denn eines der Lieder, die gleich gesungen werden, hat sie ebenfalls geschrieben. Es heißt „Mein Sperenberg“.

Allabendlich aufs Neue bin ich von dir entzückt,

Du, das mit deiner Treue, mich täglich neu beglückt.

Du Dörflein bist gelegen, so einsam, traut und still.

Der Zug braust dir entgegen, da ich nach Hause will.

Die Kirche hallt, die Menschen applaudieren. Edith Hanack ist gerührt. Der Text ist ihr beim Bahnfahren zwischen Sperenberg und Zossen, der Kreisstadt, in den Kopf gekommen, deshalb kommt ein Zug darin vor. 1958 war’s, Hanack war 22. Im Herbst zuvor hatte sie noch mit drei Freundinnen ihren Geburtstag gefeiert. Und nun, es war wohl April, waren die alle drei weg. Im Westen. Man kam ja von Zossen aus mit der S-Bahn dahin. 20 Pfennig für eine Fahrkarte, dann war man in Lichtenrade, in West-Berlin. „Es war eine unruhige Zeit“, sagt Hanack. Sie war traurig damals, verlassen, und dann ist sie eines Tages mit diesem Dampflokzug gefahren, zur Arbeit in der Bank und wieder zurück, so wie sie das jeden Tag tat. Als sie schließlich daheim wieder ausstieg, war das Gedicht fertig. „Es fiel mir einfach so ein“, sagt sie. „Und irgendwie kommt da ja auch zum Ausdruck: Ich will eben nicht weg.“

Drum sage ich ganz leise, mein Sperenberg, ein Wort:

So gerne ich auch reise, ganz will ich niemals fort.

Nie will ich mir verschließen die Tür zur Wiederkehr.

O Heimat, lass dich grüßen, ich liebe dich gar sehr!

Hanack sagt, und sie staunt dabei, „das Lied, irgendwie hält sich das, der Chor singt das seit Jahren“. Dabei sei es doch nur ein Heimatlied. Möglicherweise ist aber genau das der Grund dafür. Denn es ist ein großes Maß an Heimat vorhanden in Sperenberg, vor allem aber an Wertschätzung dafür. Die Hauptstraße ist nach Karl Fiedler benannt, einem einstigen Volksschullehrer und Heimatforscher. Es gibt eine Heimatstube voll mit Ausstellungsstücken zur Heimatgeschichte. Der Chef des Heimatstuben-Fördervereins ist Ehrenbürger. Es gibt einen ganzen Stapel Heimatliteratur und Heimatchroniken, von heimatliebenden Sperenbergern geschrieben und gedruckt. „500 Jahre Sperenberg. 1495 –1995“, „Aus der Geschichte der Sperenberger Gipsbrüche“, „Die Aktivitäten der Königlich Preußischen Militäreisenbahn in unserer Region“, „Der Bronzearmreif aus Sperenberg“, „Lyrik aus Sperenberg“. Es gibt Edith Hanack, und neben ihr noch andere Heimatdichter. Einer von ihnen schrieb:

Wo auf feuchten Wiesen laut der Häher klagt

Und der Fuchs im dichten Unterholze jagt,

Wo vom Gipsberg her der Wind streicht durch das Land,

Dort ist meine Heimat, Sperenberger Land.

Mittlerweile ist neben Fuchs und Häher auch noch jemand anderes heimisch geworden hier. Ein junges Paar, im Sommer 2011 wurde es zum ersten Mal gesehen. Nun, seit ein paar Wochen, gibt es Fotobeweise dafür, dass dieses Paar Nachwuchs bekommen hat. Es handelt sich um Wölfe.

Ungefähr zur gleichen Zeit, als im vergangenen Jahr die Anwesenheit der beiden Elterntiere bekannt wurde, erhielten Ine und Wouter Spruit die Schlüssel für den Bahnhof. Sie kamen zwar aus der entgegengesetzten Richtung nach Sperenberg, aus Westen, aus den Niederlanden, aber Berlin-Nähe war auch ihr wichtigstes Kriterium bei der Suche nach einem neuen Wohnort gewesen.

Sie hatten sich einiges angesehen rund um die Stadt. Auch einen Vierseiten-Bauernhof in Kiekebusch, ganz in der Nähe von Schönefeld. Als sie hinfuhren, bemerkten sie allerdings, dass drei Seiten des Vierseithofs eingefallen waren. Das mache doch nichts, habe der Makler gesagt, die Steine immerhin seien doch noch da.

Die Spruits nahmen dennoch Abstand davon und suchten weiter, bis sie den aufgegebenen Sperenberger Bahnhof fanden. Sie waren begeistert. Sie kauften ihn und zogen ein.

Die Spruits verhielten sich damit ganz im Sinne einer der letzten Hauptausschusssitzungen der Gemeinde Am Mellensee, zu der Sperenberg gehört. Die Gemeindevertreter befanden, der Zuzug Auswärtiger sei die einzige Chance, die Steuereinnahmen zu erhöhen und damit das, was sie Gestaltbarkeit nannten.

„Das ist ein Gefühl hier, als sei man irgendwie in der Zeit zurück“, sagt Wouter Spruit, „20 Jahre vielleicht, so im Vergleich zu dem, was wir kennen.“ Er sagt: „Die Nachbarin klingelt und hat Äpfel dabei oder Grünkohl, das ist in den Niederlanden alles weg. Dass man füreinander da ist.“

Der Bahnhof ist ein mächtiges Backsteingebäude mit Fachwerkgiebel. Im Hochparterre sind die Handwerker, bald eröffnet hier ein Laden für Bildhauerbedarf. Nebenan, im Bahnhofsschuppen, geben die Spruits Bildhauerkurse. Herr Spruit ist 60 Jahre alt, Frau Spruit ist 58, sie hat früher in einer Firma für Heizungstechnik gearbeitet, er als Elektroniker bei Philips, und beide wollten noch einmal etwas Neues anfangen. Das erste Jahr hier in Sperenberg sei ganz zufriedenstellend gelaufen, sagen sie, das nächste werde bestimmt noch besser. Ihre Hoffnung für die Zukunft richtet sich auf die alten Bahngleise, die hinterm Haus verlaufen.

Die Draisine!, sagen sie.

Die Draisine!, hat auch Frau Hanack gesagt.

Die Draisine!, sagen die Leute vom Heimatverein, der Ortsvorsteher und auch das Ehepaar Greulich, die neuen Strandbadpächter.

Falls es also ein Verkehrsprojekt geben sollte, das in Sperenberg irgendetwas auszulösen vermag, dann muss es diese Draisine sein. Sie verkehrt auf der alten Bahnstrecke zwischen den Städten Zossen und Jüterbog. Jedermann kann sie mieten. Im Streckenfahrplan sind seit einigen Wochen die Spruitschen Bildhauerkurse vermerkt. Die alten Gipstagebaue, der Geologie-Wanderpfad und das Strandbad stehen schon länger drin. Man hofft, neben neuen Einwohnern, auf Fremdenverkehr in Sperenberg.

Auch Lutz Lehmann, dem Ortsvorsteher, schwebt etwas in dieser Richtung vor. Ein Sanatorium zum Beispiel wäre schön, an einem der vielen Ufer der vielen Seen hier um den Ort, am Rand dessen, was er und alle Sperenberger das alte Russengelände nennen. Ein neuer Flughafen, man weiß ja nie, käme in diesem Zusammenhang natürlich ungelegen, denn der läge dann wohl genau nebenan. Mitten auf dem Russengelände nämlich.

Einen alten Flughafen gibt es dort bereits. Seit 1994 wird er nicht mehr benutzt, davor war er ein Militärflugplatz der Sowjetarmee, mit wohl täglicher Direktverbindung nach Moskau, Red Army International gewissermaßen. Bis zu 5000 Soldaten und Zivilangestellte sollen früher dort gearbeitet haben. Sie waren das wirtschaftliche Fundament Sperenbergs. Sie kauften ein im Ort, sie aßen und sie tranken hier. Und dann waren sie weg.

Es kamen die Wölfe, es kamen die Spruits und die Greulichs. Die Greulichs sind ein bisschen hektisch jetzt. Auch sie feiern ein Herbstfest, den Abschluss ihrer ersten Saison als Pächter des Bades am Krummen See. Haufenweise Leute sind gekommen. Manche von ihnen bedanken sich bei Frau Greulich dafür, dass nach zwölf Jahren Pause das Strandbadcafé – eine Bürgerinitiative hatte es 1970 gebaut – endlich wieder geöffnet hat. Sie sitzt an einem der Tische, überfliegt den neuen Speisekartenentwurf, der an diesem Tag fertiggeworden ist. Sie schaut auf, und dann sagt sie, dass sie verstanden hat. Dass sie Sperenberg genauso sieht wie die Sperenberger es zu sehen scheinen. „Es ist alles so heimelig hier“, sagt sie.

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