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Berlin: Juri Elperin (Geb. 1917)

Der Kosmopolit als Grenzverletzer. Sein Schmuggelgut: Verse

Er war ein Flüchtling, zeitlebens. Aus Russland floh die Familie vor den Kriegswirren in die Schweiz, nach Davos, wo Juri geboren wurde. Sein Großvater war ein reicher Mann, und Juris eidgenössischer Lebensweg schien in den hellsten Farben vorgezeichnet, die örtliche Zeitung rühmte ihn gar als jüngsten Schweizer Skifahrer. Aber das Vermögen schwand, die Schweiz zeigte sich unwirtlich, und so zog die Familie 1922 weiter nach Berlin, wo der Vater Druckereidirektor wurde. In seinem Haus gingen exilierte russische Professoren ein und aus, arm, blass, schlechtes Schuhwerk, so erinnerte sich Juri, nur flüsternd wurde über Politik gesprochen. „Aber, aber“, ermunterte sie sein Vater lachend, „hier in Berlin droht Ihnen doch keine Gefahr.“

Noch im Jahr der Machtergreifung durch die Nazis wurde er selbst von der Gestapo verhaftet – nach zehn Tagen erfuhr die Familie, dass er freikommen würde, aber nur, um umgehend als „Staatsfeind“ ausgewiesen zu werden. Der Vater wollte nach Russland zurück, Juri wehrte sich mit Händen und Füßen. Er hatte ein billiges Buch aus Russland in der Hand gehabt und aus der schäbigen Machart geschlossen, dass es dort keine Ehrfurcht vor Büchern gab und folglich auch nicht vor Autoren. Der Vater gab nach, die Familie zog nach Paris, wo sich die Willkommensfreude in Grenzen hielt. Für die Mitschüler war er der „Boche“, so nannte man abschätzig die Deutschen. Der Vater wiederum galt als Kommunist, und als die Aufenthaltserlaubnis nach zwei Jahren ablief, blieb nur der Weg nach Russland. Die Wohnungsnot in Moskau trieb sie aufs Land, was ein Glück war, „denn wir waren weit ab vom Schuss und entgingen so dem Lager.“ Stalins Terror verschonte die kleine Künstlersiedlung Peredelkino unweit von Moskau, wo die Familie sich aus den verscherbelten Balken geplünderter Kirchen ihr neues Zuhause baute, das den Krieg unbeschadet überstand.

„Ich erinnere mich noch genau an den Ton der Junkersflugzeuge, die über uns nach Moskau flogen, und es war für mich ein sehr sonderbares Gefühl. Da saßen also Männer in den Flugzeugen, die meine Sprache sprachen und deren Sprache ich sprach, und die flogen über uns hinweg. Natürlich interessierten sie sich nicht für Peredelkino und warfen bei uns keine Bomben ab. Die Bomben galten Moskau.“

Als die deutschen Truppen vor der Hauptstadt standen, meldete sich Juri zur Front. Der Beweggrund, ein sehr persönlicher: „Hitlerfeindlichkeit. Er hatte mir mein Deutschland genommen.“

Dolmetscher sind zu wertvoll, um als Kanonenfutter zu dienen. Juri wurde aus dem Kampfgeschehen abgezogen und als Vernehmungsoffizier ins Lager Nr. 27 nach Krasnogorsk abkommandiert, wo er deutsche Kriegsgefangene zu vernehmen hatte. Meist hohe Offiziere, darunter auch Generalfeldmarschall Schörner, der sich im persönlichen Umgang sehr polyglott zu geben verstand, obwohl „der blutige Ferdinand“, so sein Schlachtname, einer der brutalsten Vernichtungskrieger in Hitlers Marschallsriege war. Juri Elperin schenkte ihm eine seiner Pfeifen, was seinem Verständnis von Offiziersehre entsprach. Was die deutschen Offiziere unter deutscher Ehre verstanden, wurde erst nach und nach in den Verhören offenbar.

Nach dem Ende des Krieges begann Stalin erneut mit „Säuberungen“ im Innern, die sich nunmehr gegen Westler und Juden richteten, Juri wurde entlassen. „Ich war in Russland immer der Außenseiter, ich war dort immer der Kosmopolit und im Grunde genommen der Unerwünschte.“

Das Leben in der kleinen Kolonie hingegen schien auf wundersame Weise behütet. Er verliebte sich in Kira, und sie sich nach anfänglichen Zögern auch in ihn, 63 Jahre blieben sie zusammen, 57 davon als Ehepaar. Um die Familie am Leben zu erhalten, begann Juri zu übersetzen. Die Schriftstellerei war zu gefährlich, das wusste er von Boris Pasternak, dem verfemten Autor des „Doktor Schiwago“, der bei gemeinsamen Spaziergängen immer in die Luft schaute, wenn sie jemandem begegneten – es sollte niemand in die Verlegenheit kommen, ihn grüßen zu müssen.

Weit über 100 literarische Werke hat Juri Elperin übersetzt, Poesie wie Prosa, aber selbst die Belesenen hierzulande werden kaum ein Dutzend dieser russischen Autoren vom Namen her kennen, oder gar ihre Bücher gelesen haben, was beschämend ist. Denn die russische Literatur war immer auch eine europäische Literatur, und die großen Werke Puschkins, Tolstois, Dostojewskis und Tschechows lehrten die deutschen, französischen und italienischen Schriftsteller weit mehr als nur das folkloristische Flöten von der russischen Seele.

Kosmopoliten sind die geborenen Übersetzer, sie kennen sich aus in den Migrationsräumen der Sprachen, sie wissen, wie Schmuggelgut über die Grenzen zu bringen ist, wann Verse gefährlich sind, auch wenn sie harmlos klingen, wann Worte zu Waffen werden, obwohl sie zaghaft gesprochen scheinen. Übersetzer, so der Ratschlag von Juri Elperin, sollten daher nicht nur ins Buch schauen, sondern sich in der Welt umsehen.

In den siebziger Jahren wurde viel gelesen, in Russland und in den sozialistischen Bruderländern. Juri Elperin durfte reisen, aber er ließ sich ungern den Mund verbieten, er sprach zu offen und zu ehrlich, und so wurde ihm die Ausreise auf Jahre hinaus verboten. Aber er konnte weiter arbeiten, was ein kleines Wunder war in den Zeiten der Gulags. „Ich fürchte nichts mehr, das ist vorbei. Ich habe mich genug gefürchtet in meinem Leben.“ Aber als er den kleinen Zettel erhielt, die Vorladung in die Lubjanka, die Moskauer Zentrale des Geheimdienstes, sorgte er sich sehr um seine Frau und um sein Kind, denn nicht selten kehrte man von dort nicht mehr zurück. Er kam wieder. Und die Tasten der Schreibmaschine klackerten bis tief in die Nacht, was seine Tochter nie störte, denn jeden Abend hat er ihr Märchen erzählt, die sie ruhig einschlafen ließen.

Es war eine Insel des Glücks, die Jahre in Peredelkino, sein Haus stand allen offen, er pflegte Freundschaften mit vielen Autoren und Künstlern, mit Diplomaten und Wissenschaftlern, aber diese kleine Perestroika hielt nicht lange vor. Neureiche Nachbarn hatten ein Auge auf das Grundstück der Elperins geworfen, die niemals verkaufen würden, das wusste jeder im Ort. Dieses Haus war alles für sie: Bibliothek, Heimat, Schutzburg. Ein Brand vernichtete ihr Heim. Die Brandstifter wurden nie entdeckt. Von diesem Tag an gab es keinen Grund mehr, in Russland zu bleiben.

Die Familie zog im Jahr 2000 nach Berlin, in die Stadt seiner Kindheit. Auch wenn das Haus von damals nicht mehr stand, die Bäume glaubte er wiederzuerkennen. Juri liebte die Stadt für ihre Weltoffenheit, und weil sie ihn willkommen hieß. Er liebte die deutsche Sprache, die er so sprach, als hätten sich Erich Kästner und Thomas Mann gerade aus seinem Wohnzimmer verabschiedet. Er liebte Goethe, nicht den Geheimrat, sondern den Weltbürger, der so vehement darauf beharrt hatte, dass „die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist und dass sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt … National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit.“ Juri Elperin tat alles dafür, dass dieses große Wort von der Weltliteratur auch in Texten Gestalt gewann: Er übersetzte unermüdlich weiter.

Die Kraft hat ihn nur ganz allmählich verlassen, das Gefühl, zu lang gelebt zu haben, beschlich ihn erst ganz am Ende. Denn er hat jeden Tag und jede Stunde geliebt, die er mit seiner Arbeit und seiner Familie zubringen konnte. Wenn es ihm gut ging, hat er Pfeife geraucht, und er hat oft Pfeife geraucht. Als ihn sein Enkel einmal fragte, ob er denn irgendetwas bereut habe in seinem Leben, antwortete er: „Ja, dass ich keinen Führerschein gemacht habe.“

Die wirklich traurige Unterlassung war: dass er keine Autobiografie geschrieben hat. Dazu ermahnte ihn zuletzt noch Joachim Gauck, als er sich von Juri Elperin bei der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes ein wenig aus dessen unglaublichem Leben erzählen ließ. Aber sich selbst hat Juri nie so viel Wichtigkeit beigemessen wie seinen Autoren, und so kam es nicht mehr dazu.

Was schade ist, denn die Menschen seiner Art werden weniger, auch wenn es immer mehr Flüchtlinge gibt. Denn so fremd und feindselig die Welt sich ihm gegenüber auch zuweilen zeigte, er hatte stets ein Zuhause in der Literatur. Ein Kosmopolit ist immer auch ein Flüchtling, er flieht die Enge des nationalen Denkens. Aber Juri Elperin war mehr als nur ein Kosmopolit und ein Flüchtling: ein Mittler der Welten.

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