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Viele Eltern sind Stiefkindern gegenüber weniger ehrlich und offen - zu Unrecht, findet unsere Kolumnistin.

© Symbolfoto: Imago / Westend 61

Ehrlichkeit in der Erziehung: Kein Welpenschutz für Stiefkinder!

Wenn die eigenen Kinder nerven, sagt man denen das deutlich. Bei Stiefkindern ist das anders. Wieso eigentlich? Eine echte Beziehung braucht Offenheit!

Kinder sind ja schon eine Zumutung, wenn es die eigenen sind. Entweder geht die Karriere flöten. Oder die Partnerschaft. Oder beides. Man braucht die offizielle Untersuchung gar nicht, dass Paare, die Eltern geworden sind, erst mal unglücklicher werden. Es reicht, samstags zu Ikea zu gehen und sich nicht die Möbel anzusehen, sondern die Menschen.

Wenn eine Ehe scheitert, dann meistens nach der Geburt des zweiten Babys. Klar. Im Kampf um den Schlaf verplempert man die Zeit im Bett nicht mit Sex. Und mit kleinen Kindern geht man auch nicht mehr essen, sondern höchstens mal „was essen“.

Ablenkung bekommt man auch nicht mehr. Denn neue Bekanntschaften werden nur noch aus Elternkreisen rekrutiert, dem Spielplatz etwa oder der Kita. Man redet vielleicht noch nach dem Elternabend etwas länger und hofft, das eigene Kind wählt als Freund nicht den Mitschüler mit den doofen Eltern. Die stehen sonst wenig später mit einem Prosecco in deiner Küche, um ihr Kind vom Kindergeburtstag abzuholen. Und gehen nicht, weil auch sie sonst ja gar nicht mehr ausgehen.

Zeit für interessante Gespräche wie zum Beispiel über den Spielplatz oder die Kita und warum alle Erzieher und Erzieherinnen Kette rauchen. Wenn dann das zweite Glas Prosecco Vertrautheit vorgaukelt, beginnt man über die eigenen Kinder zu lästern. Deren Tollpatschigkeit oder Trägheit.

Bei meinem Stiefkind hatte ich immer Hemmungen

Das alles wird gesellschaftlich akzeptiert. Derartiges aber über ein Stiefkind zu sagen – dazu gehören noch ein paar Prosecco mehr. Warum eigentlich?

Aline von Drateln, Mutter vom Kollwitzplatz.

© Christobal

Natürlich soll das hier kein Plädoyer für Kinderbashing sein. Aber: Wenn die eigenen Kinder nerven, sagt man denen das deutlich und direkt. Es ist ein natürliches Verhalten, es fühlt sich richtig an, und in den richtigen Worten vorgetragen ist es Erziehung.

Aber darf man so offen auch mit den Kindern aus der anderen Beziehung sein? Bei meinem Stiefkind hatte ich immer Hemmungen, es zu kritisieren. Egal ob öffentlich oder direkt. Es fühlte sich falsch an. Als stünde mir das als Stiefmutter nicht zu.

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Ich hatte also das Gefühl, dass ich meine eigenen und die Stiefkinder in diesem Punkt keinesfalls gleich behandeln darf. Ein Verhalten, das auch auf den Vater abfärbte: Viele Väter von Scheidungskindern haben ein schlechtes Gewissen, und das macht still. Sie schlucken die Schuldgefühle gegenüber der Ex. Sie ertragen die Vorwürfe der neuen Frau.

Mit zweierlei Maß: Bei Konflikten werden Stiefkinder oft anders behandelt als Leibliche.

© Imago / Panthermedia

Und sie schweigen, wenn das Kind aus der alten Beziehung nervt. Denn: „Das Kind kann doch nichts dafür“! Weil der Vater befürchtet, dem Kind keine „richtige Familie“ zu bieten, will er es nicht patriarchalisch in die Grenzen weisen, wo gar keine Grenzen mehr sind. Außerdem will er doch, dass die Neue sein Kind toll findet. Da wäre es nur unklug, viel Wind um den nervigen Nachwuchs zu machen.

Dabei unterscheidet genau das „Besuch“ von „Familie“. Den kleinen Rabauken vom Kindergeburtstag lockt man vielleicht mit einer Runde Topfschlagen vom Designer-Sofa – und kehrt den Ärger schnell unter selbiges. Was aber, wenn der Rabauke jeden Mittwoch und jedes zweite Wochenende wiederkommt?

Auch Stiefkinder brauchen klare Regeln

Wohin mit dem ganzen Frust, den man schon mit den eigenen Kindern hat? Woher auch noch die Kraft für ein fremdes nehmen, das einem ein Stück des eigenen Lebens raubt? Und wir doch „nur dieses eine Leben haben!“, wie uns Wandtattoos im Möbelhaus erinnern wollen.

[Lesen Sie auf Tagesspiegel-Plus: Wie Scheidungskinder wieder glücklich werden]

Ich habe keine guten Ratschläge oder Lebensweisheiten. Ich kann nur für mich sprechen.

Mir hätte es damals geholfen, wenn der Umgang miteinander offener gewesen wäre. Und vielleicht nicht nur mir: Für das Stiefkind ist Welpenschutz auch nicht nur von Vorteil. Sein Instinkt lässt es irgendwann bemerken, dass es damit eine Sonderrolle hat, die nicht seinem Handeln entspringt, sondern allein seinem Sein.

Dabei ist es so wichtig, das Stiefkind so normal wie möglich zu behandeln und nicht in einem regelfreien Raum zu lassen. Denn dort ist es allein. Eine tiefe Beziehung geht nur mit Offenheit, und nur durch Auseinandersetzung entsteht eine Bindung, die über das Kindesalter hinaus geht. Außerdem: Von wem sonst soll das Kind denn lernen, auf seine eigene Bedürfnisse zu achten?

Zuzugeben, dass uns etwas trennt, hat mich und meine Stieftochter einander näher gebracht. Wenn ich heute genervt bin, versuche ich es ihr zu sagen und gehe dann auch mal auf Distanz.

Vielleicht eignet sich die Corona-Regel auch als Wandtattoo für Patchworkfamilien: „Abstand für den Zusammenhalt“.

Streiten will gelernt sein - vor allem mit Kindern.

© Imago/ThomasTrutschel/photothek

Aline von Drateln, selbst Scheidungskind, wuchs mit Mutter, Stiefvater und insgesamt vier Schwestern und Halbschwestern auf. Mit 24 wurde sie unerwartet Stiefmutter, als ihr heutiger Ehemann neun Monate nach ihrem Kennenlernen ein Kind von seiner Ex bekam. Mittlerweile haben sie noch zwei gemeinsame Kinder.

Alle 14 Tage erzählt sie im Tagesspiegel von der Zerreißprobe Patchwork: Wie es sich anfühlt, ein Leben lang „die Neue“ zu sein, weshalb sie daran gescheitert ist, die beste Stiefmutter der Welt sein zu wollen – und sich wundert, dass es zwar „Familienväter“ gibt, aber keine „Familienmütter“.

Lesen Sie hier Folge 1: Blut ist dicker als Wasser? Deswegen schwimmen wir noch lange nicht im gleichen Viren-Pool!

Lesen Sie hier Folge 2: Von wegen böse Stiefmutter - Aschenputtel!

Lesen Sie hier Folge 3: Wir Stiefmütter sind ein vollwertiger Teil der Familie!

Lesen Sie hier Folge 4: Unser Baby, die Exfrau und ich

Lesen Sie hier Folge 5: Fifty-fifty kann für Kinder so ungerecht sein

Lesen Sie hier Folge 6: Bei Stiefvätern reicht es schon, dass sie die Kinder nicht auffressen wie ein Löwe

Aline von Drateln

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