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© Doris Spiekermann-Klaas

Kreuzberg: Leben am Kottbusser Tor - perspektivlos wie immer

Seit zehn Jahren gibt es das Quartiersmanagement am Kottbusser Tor. Was hat es gebracht? Es sei schon viel damit erreicht, dass sich die Situation nicht verschlechtert habe, sagt Quartiersmanagerin Laila Atrache-Younes.

Es gibt Aufsteiger: den Wrangelkiez in Kreuzberg und den Reuterkiez in Neukölln. Es gibt Absteiger: den Stephankiez in Moabit und das Gebiet Schleipfuhl in Hellersdorf-Nord. Und es gibt den Kiez rund um das Kottbusser Tor in Kreuzberg. Dort ist das Leben so perspektivlos wie immer, Sozialindex konstant „sehr niedrig“ – „und das ist schon positiv“, sagt Quartiersmanagerin Laila Atrache-Younes, die mit ihrer wohldosierten Eleganz vor der rauen Kulisse von Biertrinkern und Flaschensuchern wie eine verirrte Touristin wirkt.

Seit zehn Jahren gibt es das Quartiersmanagement „Kreuzberg-Zentrum und Oranienstraße“, ein kleines Gebiet von 32 Hektar mit rund 9000 Menschen. 65 Prozent der Kinder leben von Transferleistungen, 72 Prozent der Bewohner haben einen Migrationshintergrund. Deutsche Familien gibt es kaum noch im Viertel. Die Jens-Nydahl-Grundschule hat 395 Kinder, davon sind fünf deutscher Herkunft. Manche Kritiker sagen, die Probleme im Viertel seien so massiv, dass sich die meisten Projekte daran relativ spurlos abarbeiten.

Laila Atrache- Younes sieht das anders: „Es gibt viele kleine Schritte, viele positive Beispiele, die man nicht sieht, die aber etwas verändern.“ Die Menschen vor allem: Die Projekte mögen auslaufen, aber die Teilnehmer seien aus der Anonymität aufgetaucht und würden sich weiter engagieren. Man sollte hinter die schlechten Zahlen schauen, auf das konkrete Leben: Da gebe es am Kotti viel mehr Leute, die sich engagieren und gute Ideen haben, als in Vierteln mit guten Zahlen.

Die Außensicht auf den Kotti entspreche nicht dem Lebensgefühl der Menschen, die hier wohnen, sagt Atrache- Younes. Bei einer Befragung hätten 90 Prozent der Anwohner angegeben, sie fühlten sich wohl im Kiez. „Viele Einwanderer haben sich hier ihr Zuhause eingerichtet“, ein Stück Heimatgefühl nach Deutschland geholt. Das könne sie durchaus nachvollziehen, sagt Atrache-Younes, die aus Syrien stammt.

Die Jens-Nydahl-Schule ist die einzige im Zuständigkeitsgebiet des Quartiersmanagements und profitiere davon sehr, sagt die Schulleiterin Claudia Deutscher. Zwei Sozialarbeiter kümmern sich um das „Kinderbüro“ in der Schule, auch das Elterncafé erhält finanzielle Unterstützung. Aktuell wird gerade die „Lernwerkstatt“ als gemeinsamer Lernort von Kitakindern und Schulkindern eingerichtet. Der Förderschwerpunkt des QM liegt derzeit auf frühkindlicher Erziehung. Mehrere hunderttausend Euro können für Projekte ausgegeben werden.

QM-Nutznießer ist auch die Wohnungsbaugesellschaft GSW, der im südlichen Bereich des Kottbusser Tores 1500 Wohnungen gehören. In den ersten Jahren habe man die Arbeit des QM nur beobachtet. Als die sozialen Verhältnisse in den eigenen Häusern aber immer unerträglicher wurden, sei man selbst als Akteur eingestiegen, sagt GSW-Sprecher Christoph Wilhelm: Bildungs- und Freizeitprojekte werden unterstützt und Räume für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zur Verfügung gestellt – und „Kriminalität, Vandalismus und Drogenkonsum haben abgenommen“. Unter den Zuzüglern seien nach wie vor überdurchschnittlich viele Menschen mit arabischen und türkischen Wurzeln, aber auch Studenten, die es cool finden, am sozialen Brennpunkt mitten in Kreuzberg zu wohnen.

Es gibt aber auch Kritik; ausgerechnet von einer wichtigen Instanz im Kiez, dem Stadtteilzentrum Kotti, einem Verein mit 70 Mitarbeitern, der 4 Kitas, ein Jugendkulturzentrum und ein Familiencafé betreibt und eng mit dem QM verflochten ist. Das Stadtteilzentrum ist mehr als doppelt so lange aktiv wie das QM. Ein Mitarbeiter sagte dem Tagesspiegel: „Eine Verbesserung sehe ich nicht wirklich“, eher das Gegenteil: „Im QM ist der Wurm drin.“ Ein sehr erfolgreiches Projekt zur Aktivierung traditionell erzogener arabischer Mütter sei nicht verlängert worden. Stattdessen würden immer neue Kiezfilme gedreht. „An den Kern der Probleme reichen viele Projekte nicht heran. Es gibt immer noch keine Strategie für den Kotti.“

Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung denkt strategisch in größeren Einheiten. Der Kotti liegt im „Aktionsraum plus“, der den Großteil des östlichen Kreuzberg umfasst, auch sozial stabile Viertel wie den Graefekiez. Fünf solcher Aktionsräume wurden für die Gesamtstadt definiert. Mit 20 Millionen Euro zusätzlicher Mittel sollen nun auch die Kieze zwischen den QM-Gebieten Projektförderungen erhalten können. Diese „Zwischenräume“ sollen so auch mithelfen, die sozialen Brennpunkte zu entschärfen.

Atrache-Younes will erst mal abwarten, was die Aktionsräume für ihre Arbeit bewirken. Neu sind zunächst nur regelmäßige Treffen der Kreuzberger Quartiersmanager – also mehr Austausch von Ideen. Im Idealfall, sagt die promovierte Arabistin, ist ein erfolgreiches Projekt nur der Anstoß für Bewohner und Gewerbetreibende, selber Verantwortung für das Viertel zu übernehmen. Wie bei den großen Fototafeln an den Fassaden der Dresdner Straße. Sie zeigen Orte auf dem Landweg zwischen Istanbul und Berlin und verbinden damit alte und neue Heimat vieler Kreuzberger. Das habe den Geschäftsleuten in der Oranienstraße so gut gefallen, dass sie jetzt auch solche Tafeln anbringen wollen – auf eigene Kosten.

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