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Schmerzexpertin. Krankenschwester Sandra Hildebrandt hat sich im Fernstudium zur Pain Nurse weitergebildet.

©  Kitty Kleist-Heinrich

Die Aufgaben einer Pain Nurse: Lizenz zum Lindern

Sandra Hildebrandt ist Pain Nurse. Sie versucht, so viel wie möglich über den Schmerz eines Patienten herauszufinden – um ihn gezielter behandeln zu können. „Wir gehen den Weg gemeinsam“, sagt sie. Ein Besuch in der Park-Klinik Weißensee.

Mit letzter Kraft stemmt sich die Spätsommersonne gegen den zugezogenen Vorhang. Ein warmer Wind weht sanft durch das geöffnete Fenster. Sonnenstrahlen fallen herein, als der Vorhang ein ums andere Mal sachte hin und her flattert. Marianne Bergmann (Name geändert) könnte jetzt den Blick nach draußen richten, sich an der Sonne erfreuen, die Wärme an ihre Haut lassen. Aber Sonne und Krankheit, Sonne und Schmerz, Sonne und Angst – das geht einfach nicht zusammen.

Park-Klinik-Weißensee, Station 1 b, ein Zweibettzimmer. Die weiße Bettwäsche mit den hellroten Streifen hat Bergmann locker über Beine und Bauch gelegt. Es wäre falsch, die 65-Jährige im Bett am Fenster als blass zu beschreiben. Vielleicht ist sie nicht ganz so rosig im Gesicht wie an besseren Tagen. Vielleicht auch nicht so selbstbewusst wie sie es sonst zu sein vermag. Vielleicht ein bisschen erschöpft. Von der OP und von dem Befund der vergangenen Tage, der nicht aufhört, sie zu beunruhigen.

Erwartungsvoll schaut Bergmann in die Augen einer Frau, die zwischen ihr und dem Tisch mit den Apfelsaftflaschen und den Taschentüchern Platz genommen hat. Sandra Hildebrandt heißt diese Frau. Sie hält einen Stift und eine große Akte in ihren Händen. Und sie sitzt hier, um das, was in den nächsten Tagen und Wochen folgen wird, ein bisschen erträglicher zu machen. „Gehen wir es an“, sagt sie und streicht liebevoll über die Bettdecke.

Die 39-Jährige ist Krankenschwester in der Park-Klinik Weißensee, zuständig für die Station für Orthopädie und Unfallchirurgie, auf der 34 Patienten Platz finden. Zu ihren blonden, zum Pferdeschwanz gebundenen Haaren trägt Hildebrandt einen kecken Pony. Kleine Stecker zieren ihre Ohren, türkise Socken leuchten an den Füßen. Seit 18 Jahren ist „Schwester Sandra“ – wie sie von Kollegen und Patienten genannt wird – in der Klinik beschäftigt. In ihrem rosafarbenen Hemd und der weißen Hose sieht sie aus wie eine Schwester unter vielen. Dabei hat Sandra Hildebrandt – wie sonst nur noch zwei andere im Haus – eine besondere Zusatzqualifikation. Sie ist eine sogenannte Pain Nurse. Ein Begriff aus dem Englischen, der die auf die Schmerztherapie spezialisierte Krankenschwester bezeichnet.

Manche Patienten profitieren nicht von der Standard-Schmerztherapie

Parallel zu ihrer Arbeit als Krankenschwester hat sie ein halbes Jahr lang ein Fernstudium am Klinikum Nürnberg- Nord belegt, um sich zur Pain Nurse ausbilden zu lassen. Im Fernstudium und mit drei Präsenztagen näherte sie sich einem Phänomen, das jeder Mensch zahlreiche Male in seinem Leben verspürt: dem Schmerz. Mal am Kopf, mal am Fuß. Mal als leichtes Ziehen, mal nur unter Tränen zu ertragen. Während ihrer Arbeit als Krankenschwester war Sandra Hildebrandt aufgefallen, dass es Patienten gibt, die von der sogenannten standardisierten Schmerztherapie nach einem Schema nicht profitieren und eine „instabile Schmerzsituation“ haben. Instabil heißt: Der Schmerz konnte mit Schmerzmitteln auf kein erträgliches Maß reduziert werden. „Mich hat das sehr beschäftigt. Also habe ich beschlossen herauszufinden, wie ich Schmerzen individuell lindern kann – mit und ohne Medikamente.“ Sie wollte mehr wissen über den Schmerz, lernen, welche Formen und Stärken er annehmen kann, wie er entsteht und im Körper verarbeitet wird.

Bevor an diesem Septembernachmittag ein sogenanntes Schmerz-Anamnese-Gespräch Sandra Hildebrandt zu Marianne Bergmann führen wird, sitzt sie mit ihren vier Kolleginnen im Schwesternzimmer der Station. Pinnwände mit Notizen und Neuigkeiten schmücken die Wände, ein Blumenstrauß leuchtet farbenfroh auf dem Tisch. Die Schwestern haben den Stift in der Hand und lauschen, was Hildebrandt ihnen aus einer dicken grünen Akte vorträgt. Wer macht Fortschritte? Wer macht Rückschritte? Was können wir verbessern? Gemeinsam mit ihren Kolleginnen tauscht sie sich täglich aus, ohne Kommunikation geht es hier nicht. „Wir haben die Patientin heute viel mobilisiert. Sie war mithilfe einer Schwester im Bad und hat den Rollator genutzt. Sie hatte jetzt regelmäßig Stuhlgang, ist insgesamt aber schwer zu leiten.“ Einvernehmliches Nicken. Während die Stifte über das Papier sausen, blättert Schwester Sandra zum nächsten Patienten in ihrer Akte. „Die Dame ist heute 90 geworden, hat auch ein paar Blümchen bekommen. Schmerzen hat sie im Bett aktuell gar nicht. Sie trinkt gut, isst gut. Alles erfreulich.“ Lächeln in der Runde.

Schließlich kommt Sandra Hildebrandt auf Marianne Bergmann zu sprechen. Dass es bei ihr so, wie es momentan ist, nicht weitergehen kann, darin sind sich alle einig. „Die standardisierte Schmerztherapie hat bei ihr nicht angeschlagen“, sagt Schwester Sandra. „Sie ist unser Sorgenkind und sehr instabil gerade.“

Vor fünf Tagen hatte Marianne Bergmann eine Operation an der Wirbelsäule, bei der die Ärzte Metastasen im Knochen entdeckten. Vor vier Jahren schon hatte sie Brustkrebs. Er schien besiegt. Nun hat er gestreut. Ob sie eine Chemotherapie, Bestrahlung oder eine sonstige Therapie bekommen wird, steht an diesem Nachmittag noch nicht fest. Gegen die Schmerzen aber muss schon jetzt etwas getan werden. Sandra Hildebrandt als Schmerzexpertin ist also dringend gefragt.

Die nächsten 20 Minuten sitzt sie am Bett von Marianne Bergmann und versucht gemeinsam mit ihr, den Schmerz näher zu definieren. „So wie Sie jetzt gerade hier liegen: Wie stark ist der Schmerz auf einer Skala von null bis zehn?“, fragt Hildebrandt. Marianne Bergmann hat sich auf die rechte Seite gelegt, um die linke schmerzende Seite nicht zu belasten. „Drei“, antwortet sie. „Und wie stark, wenn Sie sich im Bett drehen?“, „Dann schon sechs oder sieben.“ „Und wie fühlt sich der Schmerz für Sie an?“ Marianne Bergmann überlegt, verzieht die Stirn. „Dumpf? Drückend? Stechend oder einschießend?“, kommt Sandra Hildebrandt ihr zur Hilfe. „Ja, drückend“, wirft Marianne Bergmann sogleich ein. Linksseitig habe sie Schmerzen, die von dort in die Körpermitte ausstrahlten.

Sie kann die Schmerzen nicht verschinden lassen. Aber reduzieren

Schmerzfrei kann sie Marianne Bergmann nicht machen, das stellt Sandra Hildebrandt direkt klar. Aber die Schmerzen auf ein erträgliches Maß zu reduzieren, das ist möglich. Stärker als vier sollte der Schmerz bei einer Belastung nicht sein. „Das ist jetzt unser Ziel.“ Das „Unser“ und „Wir“ betont Sandra Hildebrandt ein ums andere Mal. Es ist ihr wichtig. „Ich will meinen Patienten nicht einfach ein Medikament hinlegen. Wir müssen gemeinsam die Schmerzen lindern, gemeinsam eine Therapie entwickeln“, erzählt sie später. „Ich bin nicht hier oben und der Patient da unten. Nein, ich sehe uns als gleichberechtigte Partner.“

Vor ihrem Gespräch hat sich Sandra Hildebrandt schon ein paar Gedanken gemacht, welche Medikamente Marianne Bergmann in Kombination helfen könnten. Unterstützt wird sie dabei vom ärztlichen Schmerzdienst des Hauses. „Das aktuelle Opiat, das Sie bekommen, müssen wir austauschen. Das ist nicht perfekt für sie.“ Ein anderes Opiat solle die Knochenschmerzen deutlich verringern. Dazu soll sie Infusionen bekommen. Wichtig: Es muss sich mit ihren anderen Medikamenten für Diabetes und Bluthochdruck vertragen. Den Bestand an Medikamenten kann Schwester Sandra mit ihrer Zusatzqualifikation besser überblicken als früher. Welches Medikament letztlich ausgesucht wird, entscheidet dennoch der Arzt.

Sandra Hildebrandt als Pain Nurse gibt das weiter, was sie über den Patienten gelernt hat, über seine Bedürfnisse und Probleme. Schließlich sind sie und die anderen Krankenschwestern diejenigen, die am nächsten am Patienten sind. Wie jetzt bei Marianne Bergmann. Diese holt tief Luft, seufzt. Etwas beschäftigt sie. „Geht dieses Medikament auf den Geist? Nicht, dass ich hinterher verwirrt bin.“ Hildebrandt kann sie beruhigen. Solange sie die für sie nötige Dosis bekomme, habe sie nichts zu befürchten. „Ich bleibe, wie ich bin. Das ist mir wichtig“, sagt die Patientin und lächelt zum ersten Mal an diesem Nachmittag.

Gegen diese Unsicherheit, die viele Patienten verspüren, würde Sandra Hildebrandt gerne mehr tun, etwa regelmäßige Beratungen. Vor ihrer OP könnten sich Betroffene dann schon mal über das Verhalten bei Schmerzen, das schmerzarme Bewegen und Entspannungsübungen informieren. „Ein geschulter Patient kann viel besser den für sich richtigen Weg wählen“, glaubt Hildebrandt. „Nach der Operation hätten wir dann weniger Probleme und reduzierte Schmerzen bei unseren Patienten.“ Ein solches Beratungsangebot zu realisieren wäre ihr großer Wunsch.

Die medikamentöse Therapie soll für Marianne Bergmann nicht die einzige Lösung für ihre Schmerzen sein. Sandra Hildebrandt kündigt an, schon morgen mit ihr eine Entspannungsübung machen zu wollen. Und auch Physiotherapie und eine psychologische Unterstützung gehörten als weitere Säulen zur Schmerztherapie dazu.

Als Schwester Sandra ihre Patientin zum Abschluss fragt, ob diese noch Fragen habe, gibt Marianne Bergmann zu, immer wieder Magenschmerzen zu verspüren. „Das macht der Stress. Sie machen sich gerade viele Gedanken“, gibt Hildebrandt eine Erklärung. Tränen steigen Marianne Bergmann in die Augen. Die Pain Nurse scheint mit dieser Vermutung recht zu haben. „Ein Taschentuch?“ Sie nickt. „Wir gehen den Weg hier zusammen. Sie sind nicht alleine“, sagt Schwester Sandra und streicht ihrer Patientin einfühlsam über den Arm. Bergmann schluckt und ein wenig Erleichterung liegt in ihrer Stimme: „Da fühle ich mich gleich ein wenig besser.“

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