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Im Gefahrenbereich. Lastwagen haben rechts vier Außenspiegel gegen den Toten Winkel, aber die Vielzahl kann Fahrer überfordern. Dagegen sollen radarbasierte Abbiegeassistenten helfen.

© Mercedes Benz/promo

Kritik von Unfallforscher: BVG gegen Abbiege-Assistenten - weil sie nerven

Ein Unfallforscher wirft der BVG vor, in Bussen auf lebensrettende Technik zu verzichten. Die Wirtschaftsverwaltung legt ein neues Förderprogramm für Lkws auf.

Der tödliche Unfall zwischen einem Linienbus und einer Radfahrerin vom Sonntag in Johannisthal beschäftigt die BVG – in mehrfacher Hinsicht.

Zum einen wird im Unternehmen diskutiert, wie einem erfahrenen Kollegen bei guten Sichtbedingungen ein so dramatischer Fehler passieren konnte.

Zum anderen sieht sich die BVG mit dem massiven Vorwurf konfrontiert, ohne Not auf lebensrettende Technik zu verzichten – was das Unternehmen vehement zurückweist.

Förderprogramm für Abbgiegeassistenten

Unabhängig von dem aktuellen Fall initiiert die Wirtschaftsverwaltung ein Förderprogramm, um Lastwagen schnellstmöglich mit Abbiegeassistenten nachzurüsten.

An der baulichen Situation könne es nicht gelegen haben, dass es zu dem Unfall kam, hieß es am Mittwoch aus der Senatsverkehrsverwaltung, die Infrastruktur sei intakt und funktional. Eine Untersuchung des Unfallorts durch die Abteilung Verkehrsmanagement habe sehr gute Sichtbeziehungen an der Kreuzung, insbesondere durch die rechtzeitige Parallelführung des Radwegs, ergeben. Der Radweg sei ausreichend breit und gut angenommen, es gebe keine Hindernisse, die Markierungen seien gut sichtbar.

„Die Leute bei uns im Unternehmen sind schwer erschüttert“

„Wir warten händeringend auf den Unfallbericht der Polizei“, sagt BVG-Sprecherin Petra Nelken. „Die Leute bei uns im Unternehmen sind schwer erschüttert.“ Zugleich betont sie, dass das Sicherheitssystem des erst wenige Wochen alten Busses keine Sparversion sei, sondern vom Hersteller Mercedes auf Wunsch der BVG eingebaut worden sei.

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Die Entscheidung sei bewusst für die Variante gefallen, bei der der rechte Blinker eine Kamera über der vorderen Tür aktiviert, die ihr Bild auf einen Monitor vor dem Fahrer überträgt – als Ergänzung zum Blick in den Außenspiegel und ohne Warnung. Die Alternative wäre ein radarbasierter Abbiegeassistent mit Warnlicht in der Türsäule und Vibrationsalarm im Fahrersitz gewesen, der bei Blinken und/oder Lenken auslöst, wenn sich ein mobiles Objekt im Gefahrenbereich befindet.

System habe sich als ungeeignet erwiesen

Dieses System sei für den Stadtverkehr wegen zu vieler Fehlalarme ungeeignet, sagt Nelken und verweist auf Erfahrungen anderer Verkehrsunternehmen: Die Hamburger Hochbahn habe nach Kritik des Fahrpersonals den Vibrationsalarm in Testbussen deaktiviert, ebenso die Bremer Verkehrsbetriebe, die einen Bus mit Warnton getestet hätten. Das Fahrpersonal sei wegen der Vielzahl der Alarme irgendwann zwangsläufig genervt oder beachte die Warnungen nicht mehr.

Deutscher Unfallforscher widerspricht

Einer der renommiertesten deutschen Unfallforscher widerspricht deutlich: „Erstens sind die Systeme so ausgelegt, dass sie nicht ständig warnen, und zweitens muss sich für einen Alarm tatsächlich ein beweglicher Gegenstand im Gefahrenraum befinden.“ Daraus ergebe sich die akute Unfallgefahr zwangsläufig, sagt Siegfried Brockmann, der die in Mitte ansässige Unfallforschung der Versicherer (UdV) leitet.

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„Eine Fehlwarnquote von vielleicht fünf bis zehn Prozent ist dem Fahrer durchaus zuzumuten. Der Nutzen überwiegt deutlich.“ Eine Sprecherin von Mercedes in Stuttgart würde überhaupt nicht von „Fehlalarmen“ reden. „Das System sagt: Achtung – da ist was, pass auf!“, erklärt sie. „Und das tut das System nur, wenn da wirklich etwas ist.“

Unfallforscher: System hätte Unfallfolgen lindern können

Dieser Abbiegeassistent sei für Stadtbusse seit 2018 erhältlich. „Der Kunde entscheidet, was er haben möchte.“ Systeme mit automatischer Notbremsung sind nicht erhältlich – und nach einhelliger Meinung von Fachleuten für Linienbusse auch ungeeignet, weil stehende Fahrgäste stürzen könnten.

Unfallforscher Brockmann hält es für möglich, dass ein System mit Warnfunktion zwar den Zusammenstoß zwischen dem abbiegenden Bus und der 35-jährigen Rennradfahrerin nicht verhindert, aber die Folgen deutlich gelindert hätte – weil der Busfahrer bei ausgelöster Warnung sofort gebremst hätte und nicht noch einige Meter weitergefahren wäre.

Lkw-Fahrer verursachen häufiger Rechtsabbiege-Unfälle

Andere Warnsysteme wie die von der CDU wiederholt geforderten „Bike Flash“Warnblinker an Kreuzungen hält Brockmann wegen des Gewimmels an städtischen Kreuzungen für ungeeignet: Die ständige Bewegung vor solchen Sensoren würde permanent Fehlalarme auslösen. Auch gewölbte Spiegel an Ampelmasten würden kaum helfen, weil die kritischsten Konflikte zwischen Abbiegern und Geradeausverkehr meist dahinter entstehen.

Weitaus häufiger als Busfahrer verursachen Lkw-Fahrer beim Rechtsabbiegen schwere Unfälle. Im Unterschied zu den überwiegend nachgerüsteten Landesfuhrparks haben in der privaten Wirtschaft nur wenige Lastwagen Abbiegeassistenten. EU-weit vorgeschrieben wird die Technik erst schrittweise bis 2024, und ein Förderprogramm des Bundes zur Nachrüstung von 2019 ist längst erschöpft.

Rechnungshof und Finanzverwaltung müssen noch zustimmen

In diese Lücke stößt der Berliner Senat mit einem eigenen Angebot: Die Wirtschaftsverwaltung erarbeitet zurzeit eine Förderrichtlinie für Nutzfahrzeuge ab 3,5 Tonnen, die von Unternehmen mit Sitz oder einer Filiale in Berlin betrieben werden. Zugelassene Nachrüstsysteme – Kamera plus Monitor und Warnsignal – sollen mit bis zu 80 Prozent und maximal 1500 Euro pro Fahrzeug gefördert werden. Abgewickelt werden soll die Förderung über die landeseigene Investitionsbank; vor dem Start müssen laut der Wirtschaftsverwaltung noch Rechnungshof und Finanzverwaltung zustimmen.

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