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Mit Hilfe des Tagesspiegels: Die Rettung der SPD im Westen

Der Historiker und Publizist Christoph Marx beschreibt, wie der Tagesspiegel vor 70 Jahren half, die Berliner SPD vor dem Zusammenschluss mit der KPD zur SED zu bewahren.

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Nach monatelanger Propagandaschlacht hatte am 22. April 1946 die sowjetische Besatzungsmacht ihr Ziel erreicht: Einstimmig fiel im Admiralspalast unter frenetischem Jubel der Beschluss zur Vereinigung von SPD und KPD zur „Sozialistischen Einheitspartei“ (SED) in der Sowjetischen Besatzungszone. Anwesend waren viele sozialdemokratische Delegierte aus den Westzonen, die aber kein Mandat hatten. Auch wenn die sowjetische Propaganda noch so die Einmütigkeit herausstellte, war der Zwangscharakter offenkundig.

Dass die SPD im alliierten Nachkriegsberlin als eigenständige Partei erhalten blieb, lag auch an der westlichen Presse, namentlich am Tagesspiegel, der die Zeitung den sozialdemokratischen Fusionsgegnern öffnete. Ein historisches Lehrstück in Sachen Pressefreiheit.

In den deutschen Westzonen hatte sich die Sozialdemokratie unter der Führung des Antikommunisten Kurt Schumacher mit deutlicher Mehrheit gegen eine Fusion ausgesprochen. In den Westsektoren von Berlin hatten am 31. März 1946 die SPD-Mitglieder die Vereinigung in einer Urabstimmung mit 82 Prozent abgelehnt. Die SPD blieb auch nach Gründung der SED als eigenständige Kraft in den Westsektoren bestehen und durfte aufgrund des besonderen Vier-Mächte-Status von Berlin bis zum Mauerfall auch in den Ostsektoren Büros unterhalten. Sie wurde aber politisch wie publizistisch kaltgestellt.

Ein erstes Signal zwei Jahre vor der Berlin-Blockade

Dass die SPD als eigenständige Kraft erhalten blieb, war, zwei Jahre vor der Berlin-Blockade, ein wichtiges erstes Signal für den Überlebenswillen der freiheitlichen Kräfte in der von neuem Totalitarismus bedrohten Stadt. Und dass das möglich war, war wesentlich der Presse, namentlich dem Tagesspiegel, zu verdanken. „Ohne die bereitwillige Unterstützung durch ein unabhängiges Presseorgan hätte der Freiheitskampf der Berliner SPD nicht die unerwartete Breiten- und Tiefenwirkung gehabt, die wahrscheinlich die Voraussetzung des schließlich errungenen Sieges war“, schrieb Klaus Peter Schulz, damals SPD-Akteur, in seinen Memoiren.

Dabei war der Tagesspiegel keineswegs SPD-nah und das Gegenteil einer „Arbeiterzeitung“. Von der amerikanischen Besatzungsmacht in Gestalt des zuständigen Presseoffiziers Peter de Mendelssohn, eines 33-jährigen Münchners mit englischer Staatsangehörigkeit, 1945 ins Leben gerufen, sollte die Zeitung das Gegengewicht zur sowjetisch kontrollierten Presse bilden, ein „Demokratieerzieher“ im Sinne der Reeducation-Politik sein, ein Werbeprodukt für eine liberale Demokratie, zu der die US-Amerikaner Deutschland aufbauen wollten.

Überparteilich und anspruchsvoll in Form und Inhalt, ein zeitgemäßes neues „Berliner Tageblatt“, das sich vor allem an die neue und alte Elite, also an das Bürgertum richtete und auf Argumentationskraft und Vernunft vertraute. Also alles andere als volkstümlich. Am Anfang fehlte jede unterhaltende Rubrik im Tagesspiegel, es gab keinen Sportteil. Stattdessen geistesgeschichtliche Reflexionen, moralische Predigten und Aufklärung über die Nazizeit und US-Institutionen. Die Frage des Umgangs der Arbeiterparteien miteinander war nicht primäres Interesse. Bitte auf keinen Fall politische Propaganda mehr, sondern Bildung, hieß die Devise der Redaktion um Erik Reger, einem linksliberalen Schriftsteller und Journalisten aus dem Ruhrgebiet ("Union der festen Hand"), der das Kriegsende in Berlin erlebt hatte und publizistische Pläne für die Hauptstadt hegte.

Plakate der Propaganda. In Ost-Berlin wurde für ein Ende der SPD geworben.
Plakate der Propaganda. In Ost-Berlin wurde für ein Ende der SPD geworben.

© akg-images

Die Frage des Zusammenschlusses der Arbeiterparteien war im Berlin der Nachkriegszeit parteipolitisches Thema Nummer eins. Der Glaube, deren Spaltung hätte den Sieg des Nationalsozialismus erst ermöglicht und müsse nun überwunden werden, war gerade unter Sozialdemokraten weit verbreitet, während die Kommunisten hofften, mithilfe der sowjetischen Besatzungsmacht allein gegenüber der SPD zur Massenpartei aufzusteigen. Doch als in Österreich und Ungarn Kommunisten katastrophale Wahlergebnisse erzielten, drängte die KPD zusammen mit den sowjetischen Befehlshabern auf einen Zusammenschluss. Als sich die SPD in den Westzonen um den Parteivorsitzenden Kurt Schumacher mit großer Mehrheit aus Angst vor kommunistischer Vereinnahmung gegen eine Fusion stellte, erhöhte die sowjetische Administration in ihrem Einflussbereich massiv den Druck auf SPD-Funktionäre. Einheitsgegner wurden mundtot gemacht. Das SPD-Parteiblatt „Das Volk“ durfte wie andere sowjetisch kontrollierte Presseorgane nur von Einheitsanhängern berichten.

Erik Reger: Tagesspiegel unabhängig von Parteien, aber nicht parteilos

Der Tagesspiegel erkannte die Bewährungsprobe für das westliche Demokratieverständnis, als dessen Anwalt er qua Geburt fungieren wollte. Nicht unumstritten öffnete die Redaktion ab Februar ihre Seiten für die Anliegen der rebellierenden SPD-Mitglieder und gab den überparteilichen Anspruch vorübergehend auf.

Gründer Erik Reger erklärte am 19. Februar 1946 die neue Situation mit der Bedrohung demokratischer Prinzipien durch eine kommunistisch dominierte Massenpartei: „Mit Tarnungen muß es nun zu Ende sein, gleichwie es mit jeder Diktatur, jeder Tyrannei und allem, was auch nur entfernt nach totalitärem Staat aussieht, zu Ende sein muss. ‚Massenparteien‘ haben nicht die Aufgabe, die Persönlichkeit der Masse unterzuordnen, sondern umgekehrt aus der Masse Persönlichkeiten herauszubilden. Sozialismus heißt nicht Proletarisierung des Bürgertums, sondern Aristokratisierung der Arbeiterschaft. Bisher (…) ist alles den verkehrten Weg gegangen. Statt der Vermassung entgegenzuwirken, unterstützte man sie und mit ihr den einzigen Boden, auf dem die Tyrannei gedeiht. Der Tagesspiegel ist unabhängig von Parteien, aber nicht parteilos. Seine Partei ist Recht und Gerechtigkeit, ist Wahrheit, Menschlichkeit und Menschenwürde, ist Freiheit, Friede und Völkerversöhnung. Seine Partei ist der Geist der produktiven Toleranz, die den Kampf nicht scheut und dort ihre Grenzen hat, wo die Grundsätze der Demokratie in Frage gestellt werden, sei es durch Gesinnung, Haltung oder Phraseologie.“

Die publizistische Unterstützung von ungewohnter Seite, von den US-Presseoffizieren mit einer großzügigen Auflagesteigerung befeuert, forderte die sowjetische Publizistik heraus, zumal die SPD-Rebellen in Berlin eine parteiinterne Urabstimmung durchsetzten. Jetzt wurde mit offenem Visier gekämpft.

Streit der Zeitungen führt zu demokratischem Wettkampf

Auf der einen Seite Erik Reger mit seinem Tagesspiegel, auf der anderen Seite Rudolf Herrnstadt mit seiner Berliner Zeitung. Als der Tagesspiegel ab dem 15. Februar 1946 im Vorfeld des parteiinternen Wahlkampfes zu einer „kleinen SPD-Informationszentrale“ mutierte und täglich mindestens eine Seite dem „Kampf um die Freiheit“ vorbehielt, reagierte Rudolf Herrnstadt mit Spott. „Die naiven Leser des ‚Tagesspiegel’ dürften sich heute morgen erstaunt die Augen gerieben haben. (…) Er, das ‚parteiungebundene‘ Organ, das nicht genug über die ‚parteigebundenen‘ Blätter höhnen konnte, stellt sich ihnen … hier stockt die Feder … als Parteiorgan kann man nicht sagen, als Parteiersatzorgan, als Ersatzorgan einer Ersatzpartei, als Ersatzparteiersatzorgan vor. Er teilt seinen Lesern mit, daß er zum Organ der oppositionellen ‚Sozialdemokraten‘ geworden sei.“ Dunkel raunte Herrnstadt über die „die Hintermänner des ‚Tagesspiegel‘, (...) jenen mit den Berliner Wellen ringenden Resten des Monopolkapitals in Deutschland.“ Diese wären „die tiefere Erklärung dafür, daß er sich dem Häuflein oppositioneller Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei zur Verfügung steht.“

Die gut zwei Woche anhaltende mit Auflagen und Aufsätzen geführte Kampf um die richtige Gesinnung wurde von beiden Seiten mit allerlei publizistischem Trommelwirbel geführt und stellte einen ersten echten demokratischen Wettkampf her. In jenen Tagen ließ der Tagesspiegel keinen Artikel oder andere grundsätzliche wichtige Verlautbarungen, die in den Zeitungen des sowjetischen Sektors erschienen, ohne Antwort. Immer wieder gehörten auf beiden Seiten Verweise auf die Zeit des Nationalsozialismus zur publizistischen Strategie. Der Tagesspiegel druckte am 23. März 1946 sogar Auszüge der historischen Rede von Otto Wels von 1933, der berühmten letzten Rede eines Sozialdemokraten im Reichstag. Auf diese starke publizistische Gegenoffensive der sozialdemokratischen Fusionsgegner reagierte die sowjetisch lizenzierte Presse mit Berichten über den vermeintlich freien Willen zur Einheit.

Doch alle Wortklauberei konnte den Erfolg der SPD-Rebellen nicht verhindern. Die sowjetische Besatzungsmacht verbot in ihrem Sektor kurzerhand die Urabstimmung, konnte sie aber in den Westsektoren nicht verhindern, sodass die fehlende Legitimität der Vereinigung nicht mehr verschwiegen werden konnte. Im Ergebnis vollzog sich die erste Spaltung in der Stadt – die Spaltung der SPD. Gleichzeitig wurde die Partei im Westsektor zum Bollwerk des Freiheitswillens der Berliner, zur Heimat der großen Berliner Bürgermeister, von Ernst Reuter bis Willy Brandt, die über ihr Amt hinaus die Stadt zum Test für den Behauptungswillen der freien Welt machten.

Der Autor ist Historiker, Publizist, Blogger ("Marx bloggt") und Autor des Buchs „Reeducation und Machtpolitik – Die Neuordnung der Berliner Presselandschaft 1945–1947“.

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