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Niro Love

© privat

Nachruf auf Niro Love: „Aber da stirbt man ja von.“ - „Ich nicht!“

Wie ein Verrückter hat er einen Korb nach dem anderen versenkt. Drum besuchten ihn dann auch die Stars von Alba

Jeden Morgen, wenn Niro seine coolen Sneaker anzog, und sich auf den Weg zur Schule machte, stand Filip, sein Vater, am Schlafzimmerfenster. Niro trat aus dem Haus, bog nach links, kam nach ein paar Schritten an dieser Einfahrt vorbei, hob seinen Kopf, schaute zum Haus zurück zu Filip. Filip winkte, Niro winkte. Das war ihr Ritual. „Jeden Tag haben wir das gemacht, von der Grundschule an bis zur Oberschule“, sagt Filip, der jetzt an dem Fenster steht, auf die Einfahrt zeigt, als ob Niro jede Sekunde auftauchen würde.

Als Niro längst im Krankenhaus lag, auf der Onkologiestation für Kinder, war er hundert Prozent davon überzeugt, dass er es bald geschafft haben würde. Nur noch diese eine Chemo, dann würde er wieder Basketball spielen. Niro liebte Basketball. Die Schule liebte er auch. Und seine Freunde, mit denen man Blödsinn machen konnte.

„Ich habe Blutkrebs“, schrieb er einem Freund.

„Schwör mal, wirklich?“, antwortete dieser.

„Ich schwöre.“

„Aber da stirbt man ja von.“

„Ich nicht, mir geht es gut, ich komme in drei Monaten wieder.“

Vater und Mutter hatten sich getrennt, da war Niro ein Jahr alt. Es ist der Vater, der Niros Geschichte erzählt, deswegen ist dies eine Niro-Filip-Geschichte.

Immer Türme, hochhinaus

Wilmersdorf, Bundesallee, ein kleines Zimmer für Niro, Basketballposter an der Wand, ein kleines Zimmer für den Vater, im großen Wohnzimmer fand ihr gemeinsames Leben statt. „Niro ist nie in sein Zimmer gestiefelt, hat die Tür zugemacht und wollte seine Ruhe. Er war immer bei mir im Wohnzimmer.“ Früher baute Niro hier mit Lego, immer Türme, hochhinaus. Später haben sie hier Fußball gespielt, Tisch weg, die Heizung war das Tor. Oder Filip holte die Boxhandschuhe raus, stellte die Boxpuppe auf, und schon hagelte es Fäuste.

An der Wohnzimmertür hängt ein kleiner Basketballkorb. Wie ein Verrückter hat Niro hier einen Korb nach dem anderen versenkt, Stunde um Stunde. Im Park um die Ecke gibt es einen Brunnen, um den ist Niro als Kind rumgerannt, noch eine Runde und noch eine Runde – und immer sollte sein Vater die Sekunden stoppen. Filip zeigt im Wohnzimmer hierhin und dahin, vor seinem Auge sieht er seinen Sohn werfen, boxen, schießen, rennen. Erinnert sich, wie sie aus Einzelteilen ein BMX-Rad zusammengebaut haben. Filip macht die Handgriffe vor, Niro macht sie nach, lernt, wie man Reifen flickt, wie man lackiert, wie ein Fahrrad funktioniert. Filip sieht, wie sein Sohn immer größer wird, immer neue, größere Hosen und Schuhe müssen sie kaufen, einssiebzig, einsachtzig, am Ende kommt Niro kaum noch durch die Tür.

Natürlich gab es auch Streit. Wenn Niro vom Sportplatz nach Hause kommen sollte zum Beispiel. 18 Uhr, 19 Uhr, jedes Mal verhandelte er um eine Verlängerung. Es waren so viele Bälle zu versenken. Sie feilschten um jede Minute. Niro blieb hart, Filip blieb hart. „Ich wollte nicht einfach befehlen. Ich wollte, dass er sich großmacht, für sich eintritt“, sagt Filip.

„Wenn man Mist macht, soll man dazu stehen“

Dann wieder konnte es passieren, dass Filip lospolterte. Wenn Niro seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte etwa und dazu Ausreden erfand. „Ich hasse Ausreden, wenn man Mist macht, soll man dazu stehen“, sagt Filip. Doch wie sehr sie sich auch stritten, nie gingen sie grummelig ins Bett. Spätestens am Abend nahm Filip seinen Sohn in den Arm.

Es war Fasching, und auf der Onkologiestation hatten sich alle verkleidet, die Ärztinnen und Pfleger, die Putzfrau hatte einen Hexenhut auf. „Wer bist du denn?“, fragte Niro sie. „Ich bin die Schmutzhexe“, sagte sie. „Nein, du bist die Sauberkeitsfee“, sagte Niro und lächelte sie an. Alle liebten dieses Lächeln, diese Freundlichkeit, die Erzieherinnen aus der Kita, die Lehrerin in der Schule und die Mädchen. Wenn Niro dabei war, änderte sich die Stimmung. Mit einem der Mädchen verstand er sich besonders gut, ein paar Wochen der Aufregung, ein paar Blicke, vielleicht ein Kuss. Da war die Welt noch in Ordnung.

An diesem Faschingstag in der Onkologie hatte Niro sich eine übergroße Brille aufgesetzt, dazu die Glatze, die dünnen Arme und die zehn Maschinen, die an ihm dranhingen. „Ich bin Chemo-Man“, sagte er und lächelte wieder.

Vor zwei Jahren war Niro mit seinem Onkel bei einem Alba-Spiel. Niro sah, wie die Fans loslegten, wie die Spieler in die Arena einliefen, wie jeder einzelne mit seinen Namen aufgerufen wurde. Der Rauch, die laute Musik, die Fan-Chöre. Bei Niro machte es Klick: „Papa, ich will auch Basketballprofi werden“. - „Meinst du das ernst?“ - Meinte er.

Filip telefonierte die Clubs ab und hatte Glück. Beim Berliner SC machten sie eine vierte U14-Mannschaft auf und Niro durfte mitmachen. Glück auf Erden. Nach dem ersten Training sagte Niro: „Es ist toll, aber die haben da eine Geheimsprache, Center, Rebound, ich habe kein Wort verstanden.“ Nach zwei Monaten steckte der Trainer Niro in die erste und beste Mannschaft: „Wenn er will, dann schafft er das.“ Niro wollte. Kam als erster, ging als letzter, war hochkonzentriert. Wenn der Trainer was sagte, hörte Niro zu. Es gab jetzt nur noch Basketball, Niro spielte mit blauem Auge, mit gebrochenem Finger. Die Mannschaft war gut, führte die Landesliga an. Doch das reichte Niro nicht, er wollte eine Stufe höher, wollte zum BG Zehlendorf, die in der Oberliga spielten. Also fuhr ihn Filip nach Zehlendorf zum Probetraining. 

Die Stars von Alba

Niro gab alles, drei Stunden lang, aufwärmen, eins gegen eins, drei gegen drei, fünf gegen fünf. Niro hatte ein gutes Timing, er wusste wann er für einen Block oder einen Rebound hochgehen musste. „Es war anstrengend aber gut, Niro war glücklich“, sagt die Trainerin. Niro trainierte jetzt in seiner alten und in der neuen Mannschaft, fünf Tage die Woche insgesamt.

Onkologie, sehr früh am Morgen, Niro schläft, eine Krankenschwester öffnet leise die Tür, verabreicht ihm eine neue Blutkonserve, versucht, so leise wie möglich zu sein. Niro wacht auf. „Vielen Dank und einen schönen Feierabend“, sagt er. An einem anderen Tag klopft es an der Tür und plötzlich stehen lauter große Frauen und Männer in Niros Zimmer. Das sind einige der Stars von Alba Berlin, die von ihm gehört haben und ihn jetzt besuchen. Niro freut sich, und er ist auch verlegen, so viel Aufmerksamkeit.

Nach jeder Chemo ist der Krebs gleich wieder da. Die letzte, eine sehr starke, sollte endlich helfen. „Wie viele Monate dauert die?“, fragt Niro im Januar 2024 und rechnet aus, ob es eine Chance gibt, noch in dieser Saison zurückzukehren, oder ob es dann doch die nächste wird.

8. Oktober 2023. Am Vormittag spielte er für seine alte Mannschaft, holte 30 Punkte. Am Nachmittag spielte er seine neue Mannschaft und damit sein erstes Oberligaspiel. Er war nervös, als die Trainerin ihn das erste Mal einwechselte. Kurz vor Schluss, sie lagen 52 zu 45 zurück, holte die Trainerin alle Spieler zusammen. „Wir sind jetzt in der entscheidenden Phase. Wer hat jetzt die Eier in der Hose, auf das Feld zu gehen?“ Niro meldete sich, die Trainerin nickte, wechselte ihn wieder ein, Niro blockte Angriffe, eroberte Bälle zurück. Am Ende gewannen sie mit einem Punkt.

Die fünfte Chemo schlägt an, der Krebs ist weg, Niro lacht wieder, endlich ein Hoffnungsschimmer. Doch die Nebenwirkungen sind zu stark, sein Gehirn ist angegriffen, sie versetzen ihn ins Koma. Die Tage vergehen, die Ärzte beraten sich, die Hoffnung schwindet, zu viel vom Gehirn ist abgestorben. Am Ende entscheiden die Eltern, ihn aus dem Koma aufzuwecken. „Er sollte noch einmal selber atmen, vielleicht würde er aufwachen, ich habe auf ein Wunder gehofft.“ Niro atmet. Eine Woche lang. Dann, an einem frühen Morgen, seine Eltern liegen bei ihm, wird sein Atem schwächer.

Zur Beerdigung trägt sein Vater die Urne zum Grab. Sie hat die Form eines Basketballs.

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