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Wolfgang Kockrow

© privat

Nachruf auf Wolfgang Kockrow: Ein Held? Vielleicht.

Über seine Rolle als Agent für die Stasi und für die Amerikaner schwieg er. Über die Katastrophe, die aufs Abenteuer folgte, berichtete er ausführlich.

Von David Ensikat

„Der VP-Offizier übergab zuerst mehrere Papiere an den Grenzoffizier und dann mich selbst.“ So erinnert sich Wolfgang Kockrow viele Jahre später. „Ein zweiter Grenzer kam hinzu, und mir wurde der Weg gewiesen, der zur Brücke führte. Eine Gittertür wurde aufgeschlossen, wir stiegen einige Stufen hoch, und dann gingen die zwei Hüter des Sozialismus hinter mir her, als wir die Spree überquerten. Eine letzte Gittertür wurde auf- und hinter mir verschlossen, dann war ich frei!“

Die Oberbaumbrücke zwischen Friedrichshain, Berlin-Ost, und Kreuzberg, Berlin-West, es ist der 4. Juli 1964. Wolfgang Kockrow, 1,76 Meter groß, wiegt noch knapp 50 Kilogramm. Fünfeinhalb Jahre hat er in der DDR im Gefängnis gesessen. Er hat seinen Verstand nicht verloren. Er hat überlebt.

Als erstes trifft er seinen Bruder, der ihm Vorwürfe macht. Selbst schuld sei er, dass er im Knast gelandet sei. Dass die Mutter in West-Berlin vor Gram gestorben ist, gehe auf sein Konto. Dann sprechen sie noch über die Politik, der Bruder redet von „Entspannung“ zwischen Ost und West.

Das ist nun zu viel für Wolfgang Kockrow. Wie kann man denn ein Auskommen suchen mit den Kommunisten, die ihn verprügeln und wegsperren ließen? Er hat sich im Gefängnis gegen sie gewehrt und wurde folglich noch schlimmer behandelt. „Für diese Politik der Annäherung wollte ich nicht gefoltert, gequält und körperlich wie psychisch misshandelt worden sein.“

„Nicht schuldig“

Das Buch, in dem Wolfgang Kockrow berichtet, vor allem über die grauenvolle Zeit im Gefängnis, trägt den Titel „Nicht schuldig“. Es ist 1999 in der Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen erschienen. Nach wenigen Jahren wurde es stillschweigend aus dem Bestand entfernt und ist nicht mehr erhältlich.

Die Sache ist kompliziert. Wolfgang Kockrow war vor seiner Inhaftierung „Geheimer Mitarbeiter“ der Staatssicherheit sowie Agent der amerikanischen Spionageabwehr „CIC“. Nichts darüber steht im Buch, bis heute wurde die Sache nicht öffentlich gemacht.

Ungewiss, ob Wolfgang Kockrow je irgendjemandem davon erzählt hat. Er saß 66 Monate im Gefängnis, in Pankow, Hohenschönhausen, Rummelsburg und Waldheim. Dass er dort Schlimmes erlitt, darf als sicher gelten. Kein Zweifel, er war ein Opfer des DDR-Regimes.

Zweimal ist er verurteilt worden, im ersten Verfahren nach § 15 wegen „Nachrichtenübermittlung“ zu dreieinhalb Jahren, im zweiten nach § 19 wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu weiteren zwei Jahren. Beide Verfahren fanden im Auftrag und nach Drehbuch der Staatssicherheit statt.

Umfangreiche Stasi-Akte

Über das zweite gibt ein interner Brief Aufschluss, in dem steht, dass Kockrow drohe, nach seiner Entlassung Stasi-Leute in West-Berlin zu enttarnen. Deshalb sei eine erneute Verurteilung notwendig. Woher aber soll er diese Mitarbeiter gekannt haben?

Darüber gibt seine umfangreiche Stasi-Akte Auskunft. Ebenso erklärt sie, warum genau er verhaftet worden war. Nach seinen eigenen Erzählungen war das schwer verständlich.

Aus der Stasi-Akte: Auskunftsbericht vom 27.11.1957
Aus der Stasi-Akte: Auskunftsbericht vom 27.11.1957

© Bundesarchiv

Wolfgang Kockrow wuchs in Berlin-Reinickendorf auf, sein Vater war SPD-Genosse, er sorgte dafür, dass auch der Sohn sich den Sozialdemokraten anschloss, zunächst der Jugendorganisation, den „Falken“. Die unterhielten in den 50er Jahren noch recht enge Kontakte zur FDJ, dem kommunistischen Jugendverband der DDR.

Sie hofften auf eine Wiedervereinigung, sie wollten der „spalterischen“ Politik der Adenauer-Regierung entgegenwirken. Logisch, dass die Stasi an der Sache interessiert war, nicht nur aus Misstrauen gegenüber den Westkontakten der eigenen Leute. Mehr noch auf der Suche nach aufgeschlossenen Westlern, die sich als Spione anwerben ließen.

„Feste kommunistische Haltung“

So kam es, dass Wolfgang Kockrow schon mit Mitte 20 in den Ost-Berliner Akten auftaucht. Er arbeitete damals in der Finanzabteilung des Westhafens, eine nicht schlecht bezahlte, aber langweilige Sache. Interessanter war seine politische Tätigkeit bei der Gewerkschaft und bei den Falken. Er organisierte den Austausch mit osteuropäischen Jugendverbänden.

Wo er politisch stand, ist schwer zu sagen, er schreibt von einer „festen antikommunistischen Haltung“, der Stasi-Akte zufolge war er der DDR gegenüber durchaus aufgeschlossen. Sicher waren sich die Offiziere aber nicht, immer wieder wird der Verbindungsmann aufgefordert, den Falken auf Linie zu bringen.

Sehr dankbar wäre ich Ihnen, wenn Sie mir finanziell unter die Arme greifen würden.

Wolfgang Kockrow in einer Verpflichtungserklärung 1957

Letztlich aber scheint es, als hätten politische Gründe keine große Rolle gespielt, als Wolfgang Kockrow sich 1957 mit der Stasi einließ. In seiner Verpflichtungserklärung heißt es: „Sehr dankbar wäre ich Ihnen, wenn Sie mir finanziell unter die Arme greifen würden.“

Im Lauf dieses Jahres erhielt er insgesamt 810 Westmark von der Stasi. Die erhoffte sich im Gegenzug Informationen über die Falken, die SPD und die Gewerkschaft und setzte auf einen Aufstieg ihres neuen Mitarbeiters in der West-Berliner Politik.

Verbindung zur amerikanischen Spionageabwehr

Doch schon im Mai 1957 kam „der Ami“ ins Spiel, genauer die amerikanische Spionageabwehr „Counter Intelligence Corps“. Wolfgang Kockrow geriet in Verbindung mit dem CIC, berichtete darüber ausführlich dem Verbindungsmann der Stasi, woraufhin in Ost-Berlin viele Aktenblätter vollgeschrieben wurden. Sie hatten es mit einem Doppelagenten zu tun, und die entscheidende Frage war, wem er sich mehr verpflichtet fühlte.

In einem „Auskunftsbericht“ heißt es schließlich etwas umständlich: „Da ,Deko‘ (so der Stasi-Deckname von Wolfgang Kockrow) auf ideologischer Basis nicht für uns arbeiten wird…, wird er für den arbeiten, der am besten zahlt. Da uns hier der Ami bei weitem überlegen ist (…), wird sich ,Deko‘ dem CIC bereits soweit in die Hand gegeben haben, daß er nicht für uns, sondern für den Ami arbeiten wird.“

... daß er nicht für uns, sondern für den Ami arbeiten wird.

Ausschnitt aus einem „Auskunftsbericht“ über Wolfgang Kockrow

Der CIC bezahlte ein monatliches Salär, die Höhe ist, warum auch immer, in der Akte geschwärzt. Außerdem bekam Wolfgang Kockrow einen hellblauen Opel Record geschenkt. Die Stasi geht davon aus, dass das nur als Lohn für den Verrat ihres Verbindungsmannes geschehen sein konnte.

Wiederholt berichtete der Geheime Mitarbeiter „Deko“ der Stasi, dass der CIC ihn vor der Stasi gewarnt habe: Die Agentenwelt sei gefährlich, er solle auf keinen Fall nach Ost-Berlin fahren. Er tat es aber weiterhin. Er traf sich mit den Stasi-Leuten in konspirativen Wohnungen und in Autos, er berichtete über harmlose Interna der Falken, über seine Treffs mit dem Mann vom CIC. Und er bat um konkretere Aufgaben gegen eine bessere Bezahlung – vergeblich.

Ein papierfressendes Spiel der Selbstbezogenheit

Gut möglich, dass er das alles im Auftrag der Amerikaner tat, die ihrerseits die Stasi ausspionieren wollten. Und die Stasi schrieb einen Bericht nach dem anderen, ein absurdes, papierfressendes Spiel der Selbstbezogenheit, in dem die Informationen über tatsächliche politische Dinge kaum noch eine Rolle spielten. Und das für Wolfgang Kockrow in der Katastrophe mündete.

Als die Stasi sicher war, dass ihrem Mann nicht zu trauen war, nahm sie ihn bei einem Besuch in Ost-Berlin fest. Er kam ins Untersuchungsgefängnis Pankow, und hier endet der Teil der Stasi-Akten, den die Unterlagenbehörde herausgegeben hat, die so genannte „Täter-Akte“. „Opfer-Akten“ werden der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung gestellt.

Die Unterscheidung erweist sich hier einmal mehr als kompliziert, wenn nicht unmöglich: War Wolfgang Kockrow denn überhaupt ein „Täter“? Und warum war sein Urteil vergleichsweise milde? Nicht der „Spionage“, sondern der „Nachrichtenübermittlung“ befand ihn das Gericht für schuldig.

Aus der Stasi-Akte: Bericht über den Verbindungsabbruch mit dem „Geheimen Mitarbeiter“
Aus der Stasi-Akte: Bericht über den Verbindungsabbruch mit dem „Geheimen Mitarbeiter“

© Bundesarchiv

Er hatte sich in ein Spiel begeben, dessen Regeln und Konsequenzen er nicht kannte, und er zahlte einen grausamen Preis. Wenn auch nur die Hälfte seines Haftberichts stimmt, hat er Dinge durchgemacht, an denen andere zerbrechen.

Er erzählt, wie er sich weigerte, im Gefängnis Waldheim Waffenteile zu montieren und wie er dafür monatelang in Dunkel- und Einzelhaft verbrachte. Dass es solche Zellen gab, ist überliefert, ebenso dass Gefangene darin für Wochen weggesperrt wurden, um sie zu disziplinieren.

Es gibt zwei Männer, die zur selben Zeit in Waldheim saßen, und die sich an Wolfgang Kockrow erinnern. Sie bestätigen, dass er wiederholt von der Bildfläche verschwand, dass er elend und ausgemergelt aussah. Und sie erzählen, dass er die große Ausnahme war. Man nannte ihn den „Dauerarrestanten“. Wer die Knastzeit einigermaßen unbeschadet überstehen wollte, arrangierte sich.

Dass Wolfgang Kockrow das nicht tat, dass er beinahe daran zugrunde ging, macht ihn das zum Helden? Vielleicht.

Im Buch beschreibt er die nachvollziehbare Folge der Eskalation im Knast: „Im gleichen Maße, wie meine Lebensgeister zurückkehrten, festigte sich in mir ein unbändiger, pathologischer, nur auf Vernichtung ausgerichteter Hass auf alles und jeden, der oder das den Sozialismus/Kommunismus verkörperte oder vermittelte!“

Das Schwarzweiß-Schema

Der Mann, der das Buch herausgegeben hat, erzählt, dass ihm der Text ursprünglich kaum druckbar erschien. Hass und Rachegedanken nahmen einen viel zu großen Teil darin ein. Selbst in der überarbeiteten Fassung sind sie noch übermächtig. Es spricht ein schwer traumatisierter Mensch, unfähig seine Geschichte vollständig zu erzählen.

Dass ihm das nicht möglich war, dass er die Agentengeschichte aussparte, die letztlich der Grund für sein Martyrium war, das lag sicher auch an einer Stimmung, die er miterzeugt hatte. Die Aufarbeitung der DDR-Geschichte war lange Zeit geprägt von einer holzschnitthaften Täter-Opfer-Darstellung. Hier die Stasi, da der Widerstand. Ein Schwarzweiß-Schema, in dem es vielen schwerfiel, die Grautöne ihrer Geschichte einzuordnen.

Wolfgang Kockrow steckte tief in dem Freund-Feind-Schema. Wenn er den Eindruck hatte, dass Unrecht relativiert, dass das SED-Regime zu freundlich dargestellt wurde, meldete er sich zu Wort, jeder Versuch, Widersprüchlichkeit und Lächerlichkeit aufzuzeigen galt als „Schlag ins Gesicht der Opfer“. Wie sollte er da selbst die Vorgeschichte seiner Haft darstellen?

Die Geschichte nach der Haft hingegen war erzählbar, wenn es auch hier zu einem tragischen Zwischenfall kam. Auf der Suche nach Menschen, die Verständnis für seinen Hass gegen die DDR hatten, stieß er noch im Sommer ‘64 wenige Wochen, nach seiner Haftentlassung, auf eine Gruppe von Studenten, die einen Fluchttunnel gruben. Wo, wenn nicht hier, konnte er seinen Kampf fortführen!

Es handelte sich um den so genannten „Tunnel 57“, durch ihn gelang insgesamt 57 Menschen die Flucht nach West-Berlin. Wolfgang Kockrow war zwar keiner von denen, die die Erdmassen bewegten. Dafür war er noch viel zu schwach. Mit Verweis auf seine Haftgeschichte gelang es ihm aber, bei Politikern in Bonn Geld für die teure Unternehmung einzuwerben.

Am 3. Oktober 1964 gelangten die ersten Flüchtlinge durch den Tunnel, am 4. flog die Sache auf. Grenzsoldaten eilten zur Einstiegsstelle, es kam zu einer Schießerei. Ein Fluchthelfer schoss, ein Grenzer kam ums Leben, Egon Schulz. Die DDR-Propaganda machte ihn zum Märtyrer, und auch im Westen schlug die Sache hohe Wellen. Erst nach dem Mauerfall wurde bekannt, dass die tödlichen Kugeln versehentlich von Schulz‘ eigenen Leuten abgegeben worden waren.

Wolfgang Kockrow bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung 2013
Wolfgang Kockrow bei einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung 2013

© Gaby Waldek

Wolfgang Kockrow wandte sich, wie die meisten anderen Fluchthelfer, anderen Dingen zu, die mit der großen Politik nicht mehr viel zu tun hatten. Er zog um nach Hessen, machte Karriere bei der Lufthansa und heiratete eine Stewardess.

Den alten Kampf gegen das SED-Regime nahm er noch einmal auf, als dieser längst gewonnen war. Wolfgang Kockrow gehörte zu jenen, die sich in den Opferverbänden organisierten, das Unrechtsregime, die ungenügende Aufarbeitung und den zu freundlichen Umgang mit den Tätern anprangerten. Wer konnte das glaubhafter tun als er? Er ging in Archive, las seine Stasi-Akte, schrieb sein Buch, gab Interviews.

Als der Bundeskanzler Gerhard Schröder 2001 seine wiederentdeckte Cousine aus dem Osten empfing, die ihm gestand, als Dolmetscherin auch für die Stasi gearbeitet zu haben, reagierte er gegenüber der Presse milde: „Wer von euch ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein“.

Da bat ein „B.Z.“-Journalist Wolfgang Kockrow, „Stasi-Opfer, fünfeinhalb Jahre im DDR-Knast“, um ein Statement. Das lautete wunschgemäß: „Es ist eine Verhöhnung der Opfer der DDR-Diktatur, die ihr Schärflein dazu beigetragen haben, diese Diktatur zu stürzen – quasi eine Absolution für alle Täter.“

Täter, Opfer. Helden, Schurken. Die Sache ist ein bisschen komplizierter.

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