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Das Fotoprojekt Schön & Stark soll Frauen wie Martina Mistler helfen, sich mit dem angegriffenen Selbstbild zu versöhnen.

© Franziska Günther

Neue Bilder vom Ich: Fotografin aus Brandenburg porträtiert Frauen mit Brustkrebs

„Schön & Stark“ heißt ein Projekt, bei dem Frauen fotografiert werden, die an Krebs erkrankt sind. Das soll ihnen helfen, ihren verletzten Körper wieder zu akzeptieren.

Eigentlich ist Martina Mistler inzwischen gewohnt, sich leicht bekleidet fotografieren zu lassen. Trotzdem ist sie an diesem Tag nervös. Zum ersten Mal zeigt sie ihre linke Brust nach der letzten Operation im Mai. Endlich fühle sie sich so an, als gehöre sie richtig zu ihr, geformt aus eigenem Körperfett, ohne das Silikonkissen, das sie über Monate als Fremdkörper wahrgenommen hat. Die 51-Jährige ist vor drei Jahren an Brustkrebs erkrankt – seitdem liegen mehrere Eingriffe hinter ihr. Mittlerweile ist es der dritte Anlauf der Ärzte, eine neue Brust aufzubauen.

Für das besondere Fotoshooting ist die Berlinerin in das Studio von Franziska Günther in Brandenburg an der Havel gefahren. Ende 2017 hat die Fotografin das Projekt mit dem Namen „Schön & Stark“ ins Leben gerufen, für das sie Frauen aus ganz Deutschland kostenlos fotografiert, die an Krebs erkrankt sind. 

Ihre Bilder zeigen lebensfrohe Frauen mit rotem Lippenstift und buntem Schmuck, die in die Kamera lachen. Es gibt aber auch sensible Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die die Narben der Erkrankten abbilden. Angedockt ist das Projekt an den Demokratischen Frauenbund in Brandenburg.

In einem Lebensabschnitt, den Betroffene normalerweise ungern fotografisch in Erinnerung behalten, soll die Teilnahme den Frauen Freude machen, sie mit ihrem angegriffenen Selbstbild versöhnen und ihnen durch einen neuen Blick auf ihren Körper wieder Zuversicht geben. Etwas, das die Frauen nur für sich machten und nicht, um anderen zu gefallen. 

„Ziel ist es, trotz der schweren Krankheit den Menschen Aufnahmen mitzugeben, mit denen sie wieder mehr Selbstliebe entwickeln können“, erklärt Günther. Für die 39-Jährige sei das Projekt eine Herausforderung: „Ich wollte nicht immer nur glückliche Menschen für Hochzeiten oder Geburtstage fotografieren.“

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Mistler gehört inzwischen fest zum Team und versucht Betroffenen mit ihrer Geschichte und ihren Bildern Mut zu machen. Wie viele andere Organisationen und Vereine in Berlin und Brandenburg versuchen die Frauen aktuell besonders auf die Krankheit aufmerksam zu machen. 

Nach Angaben der Deutschen Krebshilfe erkranken in Deutschland jedes Jahr etwa 70.000 Frauen und 750 Männer an Brustkrebs. Damit ist Brustkrebs die mit Abstand häufigste Krebserkrankung bei Frauen.

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Im Sommer 2017 spürt Mistler zum ersten Mal, dass etwas mit ihrer linken Brust nicht stimmt. Zwar kann sie keinen Knoten ertasten, doch die Brust riecht komisch. „Ich habe gedacht, das sei eine hormonelle Schwankung“, sagt sie. Als einige Zeit später die Brustwarze zu bluten beginnt, sucht Mistler einen Arzt auf. 

Was folgt, ist die wochenlange Ungewissheit, was mit ihr los ist. Auf dem Ultraschall und der Mammografie erkennt der behandelnde Arzt nichts. Mistler holt eine Zweitmeinung ein. Kurz vor Weihnachten steht fest: Sie hat Brustkrebs.

Sterben ist keine Option

„Scheiße, ich muss sterben“, ist ihre erste Reaktion auf die Diagnose. Sie selbst und ihr Umfeld seien zunächst in ein Loch gefallen. Doch kurze Zeit darauf entwickelt Mistler Kampfgeist. Sterben ist keine Option, sagt sie sich immer wieder. Sie hat Glück im Unglück. „Eine Chemo war schnell vom Tisch. Ich hatte einen hormonbedingten Krebs, der relativ gut behandelbar ist und meistens nicht tödlich verläuft“, erzählt sie. 

Leicht werden die darauffolgenden Monate trotzdem nicht. Mistler muss sich mit dem Gedanken anfreunden, ihre linke Brust zu verlieren. Zwar wird diese mit Hilfe eines Implantats rekonstruiert, doch die Optik und das Empfinden sind nicht mehr wie vorher. Sie weint viel zu dieser Zeit. „Ich mochte meine Brust, wie sie war und habe sie deshalb auch sehr betrauert. Es gab Zeiten, da bin ich aus der Dusche gekommen und habe gedacht, das kann nie wieder jemand schön finden“, sagt sie. 

Komplikationen verschlimmern die Situation und schränken sie körperlich ein. Wochenlang kann Mistler nicht richtig duschen, sie ist Dauerpatientin im Krankenhaus und immer wieder auf die Hilfe von Familie und Freunden angewiesen. „Es war die Hölle“, erinnert sie sich zurück.

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Trotzdem hat sich Mistler ihre positive Einstellung bewahrt. Obwohl noch zwei weitere Operationen und die Pigmentierung ihrer Brustwarze vor ihr liegen, fühle sie sich endlich mit ihrer neuen Brust wohl. Durch die Krankheit habe sie gelernt, gelassener zu werden und Dinge aus ihrem Leben zu verbannen, die ihr Energie rauben. 

Mittlerweile hat die Berlinerin mit einigen anderen Frauen sogar eine Selbsthilfegruppe gegründet – „Pretty in pink“ nennen sie sich. Sie begleiten sich gegenseitig bei Arztterminen, treffen sich im Restaurant oder unternehmen etwas. „Natürlich ist der Krebs Thema, aber eben nicht nur. Wir wollten nicht noch eine Gruppe, die in Krankenhausatmosphäre stattfindet“, sagt sie.

Die Fotos helfen dabei, die neue Brust zu akzeptieren

Die Besuche bei Franziska Günther beschreibt Mistler als eine kostbare Auszeit. „Das war gerade am Anfang etwas ganz Besonderes für mich. Ich hatte endlich Fotos von meinem neuen Ich in der Hand, die ich wirklich schön fand und die mir geholfen haben, das neue Aussehen der Brust zu akzeptieren“, sagt sie. 

Martina Mistler (l.) mit Hair- und Make-up-Artistin Audry Romano.
Martina Mistler (l.) mit Hair- und Make-up-Artistin Audry Romano.

© privat

Bevor sich Mistler an diesem Tag das erste Mal draußen vor der Kamera zeigt, nimmt sie auf dem Stuhl von Hair- und Make-up-Artistin Audry Romano Platz, die das Fotoprojekt zusammen mit Günther betreut. Während ihre Haare hochgesteckt und ihre Augen betont werden, kommt Mistler langsam runter, was auch an der ruhigen Art der Stylistin liegen dürfte. Warum Romano dabei ist? Weil sie mit ihrem Können etwas zurückgeben möchte, sagt die 53-Jährige. „Wichtig ist mir, dass ich die Frauen dabei nicht in eine andere Person verwandle, sondern ihre natürliche Schönheit unterstreiche.“

Wie sich die Teilnehmerinnen fotografieren lassen, bleibt ihnen überlassen. Viele starten für die Aufnahmen in Kleidung oder Unterwäsche. Mistler zieht zuerst rote Dessous und einen aufwendig gestalteten Kimono über. Im Laufe des Fotoshootings entwickeln die meisten Frauen ein gutes Gefühl, sich nackt und mit den Narben ihrer Krankheit zeigen zu wollen. 

Spender werden dringend gesucht

Die 51-Jährige nimmt es mit Humor: „Ich musste mich in den letzten Jahren vor so vielen Ärzten ausziehen. Damit habe ich kein Problem mehr.“ Mit dabei ist auch ihre Tochter Marilu. Dass ihre Mutter sich halbnackt fotografieren lässt und damit auch für mehr Aufklärung bei Instagram und Facebook wirbt, ist für die 15-Jährige kein Problem – im Gegenteil. „Ich bin stolz auf sie und finde ihren Einsatz bewundernswert“, sagt sie.

Finanziert wird „Schön & Stark“ über Spender, die Franziska Günther und ihre Mitstreiterinnen weiterhin dringend suchen. „In der Coronakrise ist leider einiges weggebrochen, und wir können uns weniger auf Veranstaltungen zeigen“, sagt Günther. Nach eigenen Angaben hat die Fotografin seit dem Start knapp 50 Frauen fotografiert, hinzu kommen Gruppenshootings. So kamen etwa im August mehr als 25 Frauen aus ganz Deutschland und sogar aus Belgien zusammen, um sich gemeinsam ablichten zu lassen und über ihre Erfahrungen zu sprechen – das Event soll im nächsten Jahr wiederholt werden. Mehr Informationen über das Fotoprojekt „Schön & Stark“ gibt es im Internet unter www.schönundstark.de.

Kristin Hermann

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