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Berlins Verbindungen nach Großbritannien sind eng – nicht nur, weil die Queen quasi Ehrenbürgerin ist.

© Kitty Kleist-Heinrich

Reaktionen auf den Brexit in Berlin: Berlins Briten sind fassungslos, entsetzt und traurig

Viele Briten leben in Berlin. Sie fürchten sich vor den Folgen eines EU-Austritts Großbritanniens und überlegen, was die Entscheidung für sie persönlich bedeutet.

Der Schock ist groß am Morgen nach der Entscheidung. Die Stimmung der hier lebenden Briten schwankt zwischen blankem Entsetzen und Betretenheit. So mancher möchte sich im Licht der Öffentlichkeit erst mal gar nicht positionieren. Kein Wunder, gerade bei den älteren Briten in Berlin sind die engen Bande aus Alliiertenzeiten immer noch lebendig im Gedächtnis. Und für die Jüngeren sind internationale Freundschaften und die freie Wahl des persönlichen Hauptquartiers sowieso selbstverständlich.

Shirley Wray kommt ursprünglich aus York, lebt aber schon seit 1975 in Berlin. In der Nacht hat sie vor dem Fernseher gefiebert, „aber es wurde immer schlimmer“. Als Beraterin in der traditionsreichen Bücherstube Marga Schoeller in Charlottenburg ist sie seit 1982 zu einer wahren Instanz für Liebhaber englischsprachiger Literatur herangewachsen. Ihre Fachkenntnisse beschränken sich nicht auf britische Literatur. „Ich fühle mich als Weltbürgerin“, sagt sie. Leid tun ihr vor allem die jungen Leute, die unter 25-Jährigen, von denen die meisten bleiben wollten. „Die werden die Konsequenzen tragen müssen.“ Dies sei, so ist sie überzeugt, auch eine Lektion für Brüssel. Viele Engländer fühlten sich einfach nicht eingebunden. Shirley Wray fühlt sich „sehr traurig und auch besorgt“. Außerdem ist sie frustriert, weil Briten, die seit über 15 Jahren im Ausland leben, nicht mitstimmen durften. In ihrem Freundeskreis geht es auch um die Frage, ob ein europäischer Pass nicht wünschenswerter wäre. „Wir überlegen jetzt, ob wir Deutsche werden sollen, denn wir fühlen uns als Europäer.“ Und irgendwo möchte sie nach dieser Erfahrung schon gerne mitwählen können.

Deutscher zu werden kommt für Paul Michael Robinson nicht infrage, ebenso wenig wie eine dauerhafte Rückkehr nach Großbritannien. Der frühere britische Handelsattaché hat nach 1989 seinen Teil dazu beigetragen, dass britische Unternehmen in den neuen Bundesländern investierten. Für ihn kam die Nachricht vom Brexit wie ein „ganz großer Schock“. Er sei sehr enttäuscht, weil er das überhaupt nicht erwartet habe. „Meine Frau musste mir einen sehr starken Tee machen heute morgen.“ Er fürchtet nun, dass sukzessive Schottland, Wales und Nordirland ebenfalls Großbritannien verlassen, um in der EU zu bleiben. Auf jeden Fall werde die Entscheidung beide Seiten teuer zu stehen kommen. Visumspflicht, Arbeitserlaubnis, das alles werde ja wieder kommen. Im früheren British Officers Club, dem heutigen International Club, genießt er manchmal noch den Geist der Verbundenheit aus Alliiertenzeiten. Um seinen eigenen Status fürchtet er zwar nicht. „Aber die Neuen werden es viel schwerer haben.“

Es ist mir ein Rätsel, wie man gerade in Europa meinen kann, dass eine Rückbesinnung auf Nationalstaaten auch nur ein einziges Problem lösen kann, ohne nicht mindestens zwei Neue zu schaffen.

schreibt NutzerIn Lische

Andere Weltbürger wie Sir Simon Rattle, der gerade in London probt, mögen sich zwar nicht äußern. Und auch Hutmacherin Fiona Bennett, die als Tochter eines Briten und einer Deutschen beide Pässe besitzt, macht deutlich, dass sie unglücklich ist über diesen Ausgang, sich aber gar nicht weiter äußern mag. Die Künstler des English Theatre fühlen sich ebenfalls zu betroffen, um sich öffentlich zu dem Thema zu äußern. Der Schmerz sitzt tief, gerade bei denen, die jahrelang den Austausch zwischen den Nationen befördert haben. Es ist deutlich spürbar, dass die Perspektive der etwa 13 000 Briten in Berlin sich sehr unterscheidet von der Perspektive jener, die den Brexit schließlich bewirkt haben.

Blogger Jon Worth macht sich ganz praktische Sorgen. Die Unsicherheit für in Deutschland lebende Briten sei nun sehr groß. Niemand wisse, wie es nach dem Austritt beispielsweise mit der Arbeitserlaubnis, der Rentenauszahlung oder der Krankenversicherung weitergehe. „Wer länger als vier Jahre hier ist, sollte unbedingt einen deutschen Pass beantragen“, empfiehlt er.

Auch die Berliner Politik hat nachdenklich bis bestürzt reagiert. Frank Henkel (CDU) macht sich um Europa „mehr Sorgen als je zuvor“. Sebastian Czaja, Spitzenkandidat der FDP, sagt im Manager-Tonfall über die EU: „Wenn ein Angebot bei der Zielgruppe nicht ankommt, muss das Produkt neu aufgestellt werden – in Brüssel wie auch in Berlin. Politik, auch und gerade in den Städten, muss wieder mehr zuhören, hinhören, mitgehen.“ Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) verbirgt seine Enttäuschung nicht. Er empfinde die Abstimmung als herben Rückschlag, sagt er. „Wir haben viele Jahre dafür gekämpft, dass die EU nicht nur eine Wirtschaftsunion ist, sondern auch eine Wertegemeinschaft. Davon hat sich jetzt ein wichtiger Partner verabschiedet.“ Wirtschaftssenatorin Cornelia Yzer denkt positiv und hofft, dass jetzt mehr Unternehmen ihren Hauptsitz nach Berlin verlagern: „London war bislang ein wichtiger Standort für die Europazentralen multinationaler Unternehmen, die auch weiterhin im Kern Europas verankert sein wollen.“ In Berlin spricht man auch Englisch.

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