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Die Aktivisten erinnern an die in Russland getöteten Journalisten und Aktivisten.

© Sven Darmer

Vierwöchiges „Demokratie-Camp“ in Berlin-Mitte: Russische Aktivisten richten Protestcamp am Brandenburger Tor ein

Einen Monat lang protestieren Putin-Gegner vor dem Brandenburger Tor. Die Gruppe wird massiv angefeindet – in russischen Medien, aber auch von Passanten.

Von Rebecca Barth

Daria Dudley hat sich einen Monat Urlaub genommen, um vor dem Brandenburger Tor gegen die Regierung Putin zu protestieren. An diesem Aprilabend steht die zierliche 31-Jährige in einer dicken Jacke mit einem Coffee to go in der Hand vor einem weißen Pavillon und diskutiert mit Passanten. „In Bezug auf Russland muss in Deutschland ein Umdenken stattfinden“, findet sie.

Dudley ist Juristin und arbeitet eigentlich in der Flüchtlingsberatung. Am vergangenen Wochenende hat sie mit Aktivisten der russischsprachigen Diaspora das sogenannte „Demokratie-Camp“ gegenüber dem Brandenburger Tor errichtet. Einen Monat lang wollen sie bleiben, Tag und Nacht. „Wir wollen nicht, dass Putin und Russland gleichgesetzt werden“, sagt Dudley.

Das Camp soll ein Ort der Begegnung sein, in dem die vielen politischen, aber auch sozialen Konflikte, die den postsowjetischen Raum seit Jahren prägen, diskutiert werden können. Dieser Freitag steht unter dem Motto: „Inhaftiert in Russland – und noch am Leben?“ Am Nachmittag soll der Ökonom Wladimir Perewersin aus seinem Buch vorlesen, das er über seine siebenjährige Haft in einer russischen Strafkolonie geschrieben hat.

Über eine Leinwand soll anschließend online mit Menschenrechtlern, Journalisten und Aktivisten der Protestbewegung im sibirischen Chabarowsk diskutiert werden. Jeder Tag des einmonatigen Protests soll unter einem anderen Motto stehen, auch Themen wie häusliche Gewalt sind auf dem Programm, das die Gruppe meist kurzfristig über Facebook bekannt gibt.

„Wir wollen uns vernetzen und organisieren“, sagt Dudley, und dafür scheint Berlin nicht der schlechteste Ort zu sein. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge haben seit 2012 mehr als 52.000 Menschen aus der russischen Föderation in Deutschland Asyl beantragt, darunter verfolgte Journalisten wie Ali Feruz oder Umweltaktivisten wie Alexandra Korolewa.

Fotos zeigen ermordete Journalisten und Aktivisten

Vielen Kritikern der russischen Regierung erging es in den vergangenen Jahren schlechter, wie die 21 Plakate zeigen, die die Protestierenden vor ihrem Camp aufgestellt haben. Sie zeigen Fotos vergifteter oder ermordeter Journalisten und Aktivisten wie die Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa, die 2009 erschossen wurde. Oder die Journalistin Anna Politkowskaja, erschossen 2006. Oder den Aktivisten Wersilow, die Politiker Kara-Murza, Nemzow, Nawalny.

Die Liste der angegriffenen oder getöteten Kritiker des Putin-Regimes ist lang und für die Protestierenden vor dem Brandenburger Tor steht fest, dass die russische Regierung in die Fälle verwickelt ist.

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Doch ihre Forderungen richteten sich nicht an Putin, sondern an die deutsche Bundesregierung. Nach Ansichten der Veranstalter destabilisiere die russische Regierung mit Propaganda und Cyberangriffen gezielt die Demokratie in Europa und die Bundesregierung unternehme dagegen zu wenig. So solle Deutschland etwa dem russischen Staatssender RT die Lizenz entziehen, fordert Dudley.

Staat bezeichnet Camp als „Festival des Hasses gegenüber Russland“

Obwohl der Protest unter dem Motto „Stop Putin's Terror“ bisher klein ist, hat es die Gruppe in Russland bereits in die staatlichen Nachrichten geschafft. Ein „Festival des Hasses gegenüber Russland“ nannte eine Nachrichtensprecherin die Aktion. Der Bericht hätte viele kontroverse Diskussionen innerhalb der russischen Community über das Camp ausgelöst, sagt Dudley.

Eine Passantin bleibt vor dem Zelt stehen und betrachtet die ausgestellten Fotos. „Sehr schön“, sagt sie auf Russisch. „So etwas ist ja leider in Russland nicht mehr möglich.“ Sie komme aus Moskau und besuche gerade Familienangehörige in Berlin. Dudley nickt. „In Russland würde so ein Protest nicht genehmigt.“

Die Aktivisten des „Demokratie-Camps“ am Brandenburger Tor haben Plakate von 21 Kreml-Kritikern aufgestellt.

© Sven Darmer

Doch das gefällt nicht jedem. Ein älterer Mann hält auf seinem Fahrrad an und schimpft auf Russisch: „Wozu macht ihr das? Faschisten! Verräter!“ Es folgt eine ganze Salve wüster Schimpfwörter, aber Dudley bleibt ruhig. Es sei schon öfter vorgekommen, dass Menschen die aufgestellten Fotos umgeschmissen und die Aktivisten beschimpft hätten, auch eine Schlägerei und Morddrohungen habe es bereits gegeben.

Russische Community seit der Ukraine-Krise gespalten

Mehr als 27.000 Menschen mit russischer Staatsangehörigkeit leben nach Angaben des Amts für Statistik Berlin Brandenburg in der Hauptstadt. Doch die russischsprachige Community ist weitaus größer und spätestens seit dem Beginn des Ukraine-Konflikts 2014 tief gespalten.

Aber auch zwischen den Putin-Kritikern herrsche großes Misstrauen. Man werfe sich gegenseitig vor, ein Spion zu sein oder anderweitig im Dienst des Kremls zu stehen. „Das Klima in der Community ist absolut vergiftet“, sagt Dudley. Zwei Polizisten schützen die Veranstaltung, doch sicher fühle sie sich nicht, denn die Polizisten seien nur tagsüber in der Nähe.

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Aber Daria Dudley und ihre Mitstreiter wollen sich nicht verunsichern lassen. „Es geht darum, ein Zeichen zu geben, dass es mehr als Putin in Russland gibt. Aber es geht auch darum, zu zeigen, dass die Russinnen und Russen, die in Russland um Freiheit kämpfen, nicht allein sind“, sagte der EU-Abgeordnete Sergey Lagodinsky am Wochenende bei der Eröffnung der Protestaktion.

Wenige Meter weiter protestieren „Querdenker“

Ein Buchhalter, der sich als Ruslan Hermann vorstellt, sagt fröstelnd, er versuche neben Arbeit und Familie so viel Zeit wie möglich im Camp zu verbringen. Ein Mann in dicker Jacke und grauer Mütze klettert mit verquollenen Augen aus dem Zelt.

Dmitri Bagrasch, 52, ist Mitorganisator des Camps und hatte sich für einige Stunden zum Schlafen zurückgezogen. Er hustet und blickt hinüber zum Brandenburger Tor, wo seit dem Nachmittag ein Protest gegen die Corona-Maßnahmen stattfindet. „Sind die immer noch da“, murmelt er und zieht ein Päckchen Tabak aus der Tasche.

Dudley und Bagrasch haben sich Ende Januar in Berlin auf einer Demonstration gegen die Inhaftierung des russischen Oppositionellen Nawalny kennengelernt. Mit Sorge beobachten die Aktivisten den Gesundheitszustand des inhaftierten Oppositionspolitikers, der sich seit Anfang April im Hungerstreik befindet und damit eine medizinische Behandlung erzwingen will. Nawalny sehe schlecht aus und habe seit seiner Inhaftierung bereits 14 Kilogramm abgenommen, sagte seine Anwältin dem „Spiegel“.

Dudley und Bagrasch sind keine Anhänger des Politikers, dennoch sollte der Oppositionelle zu den Wahlen zugelassen werden – zuerst müssten aber freie Wahlen überhaupt stattfinden, sagt Dudley. Der Fall Nawalny war für viele im Camp ein ungesühnter Angriff auf einen Regime-Kritiker zu viel. „Die Deutschen können die Gefahr, die von der russischen Regierung ausgeht, nicht ignorieren“, findet Bagrasch. Für diese Überzeugung ist er bereit, tagtäglich vor dem Brandenburger Tor zu frieren.

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