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Ein Säugling liegt am in einem Bett auf der Wochenstation in einem Universitätsklinikum.

© Arno Burgi/dpa-Zentralbild/dpa

Säuglingssterblichkeit in Berlin-Neukölln: „Es hilft nicht, das Thema zu verschweigen“

Sterben in Neukölln mehr Babys als in anderen Bezirken, weil es mehr Verwandtenehen gibt? Stadtrat Falko Liecke hält das für denkbar und rief so Widerspruch hervor. Was er Kritikern entgegnet. Ein Interview.

Herr Liecke, aus dem vor wenigen Wochen veröffentlichten Gesundheitsbericht des Neuköllner Bezirksamtes geht hervor, dass die Säuglingssterblichkeit in Neukölln fast doppelt so hoch ist wie im Berliner Durchschnitt. Patrick Larscheid, Leiter des Berliner Zentralarchivs für Leichenscheine, verwies kürzlich im Interview mit dem Tagesspiegel darauf, dass die Zahl der gestorbenen Säuglinge sich auf den Sterbeort und nicht den Wohnort beziehe und daher wenig aussagekräftig sei.

Diese Information von Herrn Larscheid ist falsch. Das habe ich mit ihm telefonisch schon besprochen. Richtig ist, dass verstorbene Säuglinge nach dem Wohnort oder dem Wohnort der Mutter in die Statistik einfließen.

Das heißt, die Aussage, dass die Sterblichkeitsrate auch damit zusammenhängen könnte, dass es in Neukölln eine überregional auf Frühgeborene spezialisierte Klinik gibt, ist eigentlich hinfällig?
Nicht eigentlich. Nach dem Indikatorensatz für die Gesundheitsberichterstattung der Länder ist es schlichtweg eine Falschinformation gewesen, die Herr Larscheid da hat. Um vielleicht nochmal meine Ausgangsposition deutlich zu machen: Wir haben eine statistische Entwicklung, die ist dokumentiert. Jetzt ist es doch meine Aufgabe als politisch Verantwortlicher zu überlegen: Woran liegt das? Ich könnte natürlich auch sagen: „Ist mir egal, ist halt so, das Leben ist hart.“ Das ist aber nicht mein politischer Ansatz und auch nicht mein Verständnis.

Der Neuköllner Jugend- und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU).
Der Neuköllner Jugend- und Gesundheitsstadtrat Falko Liecke (CDU).

© Bezirksamt Neukölln

Nun haben Sie bereits öffentlich mehrere Erklärungsansätze geliefert...
Ich habe immer gesagt, auch ganz bewusst im Konjunktiv, es könnte eine Ursache darin liegen, dass wir viele Menschen haben in Neukölln mit einem Armutsrisiko oder die arm sind. Wir haben in Neukölln auch eine höhere Sterblichkeit bei Erwachsenen, also die Menschen sterben hier im Schnitt ein Jahr früher als in anderen Bezirken.

Der zweite Themenkomplex kann sein, dass unsere ärztliche Infrastruktur nicht ausreichend ist.

Der dritte Punkt könnte sein, dass eine höhere Säuglingssterblichkeit zurückgehen kann auf Verwandtenehen. Das ist eine These, die bisher zahlenmäßig nicht unterlegt ist. Ich weiß auch nicht, ob man sie unterlegen kann. Es wird auch mit Sicherheit keinen von diesen drei Schwerpunktblöcken geben, der allein ursächlich dafür ist. Vielleicht stellt sich am Ende des Tages auch etwas völlig anderes heraus. Was sicherlich nicht hilft, ist, das Thema zu verschweigen, weil es politisch unangenehm ist.

Aha, also doch die absolute Wahrheit, diesmal als "Vermutung", "eine Möglichkeit" verpackt: Der Fremde/Flüchtling ist an allem Schuld und durch "Verwandten-Ehen" "unrein". Gut, dass der Biodeutsche sein Erbgut sauber hält.

schreibt NutzerIn 1964

Der Neuköllner Kinderarzt Reinhard Bartezky, der auch Vorsitzender des Berufsverbandes ist, sagte kürzlich im Gespräch mit dem RBB, dass es aus Sicht des Verbandes nicht an der ärztlichen Versorgung liege – sondern eher daran, dass die Menschen einfach grundsätzlich nicht zum Arzt gehen.

Interessant ist, wir haben eine Tatsache, und niemand will’s gewesen sein. Es ist eine Tatsache, dass wir in Neukölln eine Unterversorgung an niedergelassenen Ärzten haben. Eine Lösungsmöglichkeit ist, am Krankenhaus Neukölln eine Praxis einzurichten mit niedergelassenen Ärzten, die Kinder quasi regelversorgen – die sogenannte Portalpraxis. Denn ein Problem ist, dass die Menschen gerade in die Kinderrettungsklinik mit ihren Kindern kommen, ohne Rettungsfälle oder Notfälle zu sein. Das ist nicht unbedingt hilfreich für die adäquate Versorgung.

Die zweite Möglichkeit ist natürlich, mit mehr Niederlassungen in Neukölln zu arbeiten. Da ist jetzt einiges passiert, denn die kassenärztliche Vereinigung hat zugestanden, berlinweit zehn zusätzliche niedergelassene Kinderärzte zu finanzieren. Drei davon sollen in Neukölln landen.

Der dritte Aspekt, an dem ich arbeite, wäre zum Beispiel, in Neukölln ein Kommunales Medizinisches Versorgungszentrum zu gründen, in dem sowohl Hausärzte als auch der öffentliche Gesundheitsdienst Leistungen aus einer Hand anbieten.

Zurück zu den Verwandtenehen: Es gibt keine Datengrundlage, die darauf hindeutet, dass die Säuglingssterblichkeit mit Verwandtenehen zusammenhängt. Der australische Forscher Alan Bittles, der Verwandtenehen aus medizinischer Sicht erforscht, nannte die entsprechende Hypothese „rassistisch und antimuslimisch aufgeladen“. Warum werfen Sie die Hypothese auf, auch wenn Sie sich der Debatte darum bewusst sind?

Nur weil ein Thema vielleicht schwierig ist oder weil es politisch heftig diskutiert ist, kann das ja nicht zur Folge haben, dass ich mich nicht darum kümmere. Ich finde, dass man in dieser Debatte auch die Bandbreite der Einflussfaktoren darstellen muss. Die Kinderärzte haben auch mit mir geschimpft. Das muss ich dann aushalten. Beifall von irgendeiner Seite bei Twitter oder sonstwo ist mir relativ egal, ehrlich gesagt. Ich weiß, dass die Bevölkerung einen sehr großen Migrationsanteil hat in diesem Bezirk und dass das vielleicht eine Ursache sein könnte.

Ich habe auch mit Kinderärzten gesprochen, die sagten, es könnte vielleicht auch daran liegen. Es gibt aber keine gesicherte Datenbasis. Und wenn ich gefragt werde: ,Herr Liecke, woran könnte es denn liegen, dass bei euch mehr Kinder sterben als in anderen Bezirken?‘ – dann liefere ich verschiedene Erklärungsmuster und versuche das erstmal so zu beantworten. Und ich finde, das ist nicht unredlich, sondern notwendig.

Gibt es Bestrebungen von Ihrer Seite aus, mit anderen Bezirken zusammenzuarbeiten und das Thema auch vergleichend zu untersuchen?

Ich bin ja scheinbar der einzige in dieser Stadt, den das Thema interessiert. Weder die Senatsverwaltung noch irgendwelche anderen Gesundheitsämter oder politische Verantwortliche interessiert dieses Thema. So einen Schwerpunktbericht, wie wir ihn herausgegeben haben, gibt es ja nirgendwo. Aber viele Daten, die im Bericht auftauchen, sind ja auch bezogen auf die ganze Stadt. Da erwarte ich eigentlich auch von der Senatsverwaltung die kritischen Punkte, oder die Auffälligkeiten, aus der Berichtslage raus zu filtern. Das Thema Säuglingssterblichkeit ist in dieser Stadt kein Thema gewesen bisher. Deshalb bin ich froh, dass man mal darüber debattiert.

Falko Liecke, 45, ist Stadtrat für Jugend und Gesundheit sowie stellvertretender Bürgermeister in Neukölln. Er ist zudem Kreisvorsitzender der CDU Neukölln.

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