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In der ehemaligen Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne gab es Zelte für 1600 Flüchlinge. Die Aufnahme stammt aus dem Mai 2016.

© imago/Uwe Steinert

Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Berlin-Spandau: Vorwurf gegen Heimbetreiber: Flüchtlinge als "Karteileichen" geführt

In einer Flüchtlingsunterkunft in Spandau sollen Bewohner gelistet worden sein, die dort nicht lebten - sagt ein Ex-Mitarbeiter. Der Betreiber bestreitet das.

Eine junge Frau aus Syrien hätte im November 2015 in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne in Spandau schlafen sollen. Sie hätte dort morgens, mittags und abends ein Tablett zur Essensausgabe tragen sollen und sich Zahnpasta und Seife bei der Hygienestelle abholen. Laut der Bewohnerliste der Notunterkunft für Flüchtlinge hätte sie mit ihrem Bruder und einem Cousin ein Dreierzimmer teilen sollen. Doch ihr Bett stand leer, genau wie das ihres Bruder.

„Wir hatten Berliner kennengelernt, die uns ein Obdach angeboten haben“, erzählt die junge Frau. In der Kaserne tauchte sie von da an nur noch auf dem Papier auf. Als Karteileiche, wie ein ehemaliger Mitarbeiter nun dem Heimbetreiber Prisod vorwirft.

Die Verwaltung habe Abwesende wie die Syrerin systematisch weiter in ihren Belegungslisten geführt anstatt ihren Platz für andere zur Verfügung zu stellen, lautet die Anschuldigung, die der Mann in einem elfseitigen Brief an den Tagesspiegel erhebt. Eine Praxis, die abrechnungstechnisch zwar legal wäre, aber im großen Stil doch Fragen aufwirft.

,L‘ stand für Karteileiche

Der ehemalige Mitarbeiter soll an dieser Stelle Peter Berger heißen. Mit seinem echten Namen auftreten will er nicht, denn er fürchtet Konsequenzen. Immerhin hat er Belegungslisten für beinahe jeden Tag zwischen Oktober 2015 und November 2018 an den Tagesspiegel weitergegeben. Mit Blick auf die internen Akten erklärt Berger das Vorgehen in der Unterkunft so: „In den ersten Jahren schrieb die Verwaltung hinter einen Bewohner ein ,L‘, wenn er dauerhaft fehlte. Der Buchstabe stand für ‚Karteileiche‘. Im November 2017 wurde dann eine eigene Spalte in der Tabelle eingeführt, in der Mitarbeiter die Ziffern ‚1‘ oder ‚2‘ notierten, wenn jemand beständig nicht da war.“

Der damalige Innensenator Henkel informiert sich im September 2015 über die Situation in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne.

© Bernd von Jutrczenka/dpa

Seit Anfang 2016 arbeitete Peter Berger für Prisod. Damals standen für Flüchtlinge in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne fünf Gebäude zur Verfügung. Die Kaserne wurde einst von den britischen Alliierten genutzt und diente später als Polizeiunterkunft. Insgesamt etwa 1000 Flüchtlinge hatten hier Anfang 2016 Platz. Später eröffneten zusätzliche Gebäude für weitere 600 Personen.

Wie viele Bewohner gemäß der Kürzellogik von Peter Berger als Karteileiche ein Bett belegten, variiert von Tag zu Tag. Am 25. Juni 2016 finden sich über alle fünf Häuser hinweg nur ein gutes Dutzend Einträge, am 7. November 2017 dagegen sind es 60 Vermerke. Bei Stichprobenzählungen liegt die Zahl meist grob um die 50.

Im November waren nur 54 Prozent aller Betten in Aufnahmeeinrichtungen belegt

In manchen Fällen ziehen sich die Anmerkungen über viele Monate. Zwei Personen aus Vietnam etwa blieben Bergers Lesart zufolge zehn Monate der Kaserne fern, ehe die Verwaltung sie im Januar 2018 aus der Liste nahm. Zwar dürfen sich Bewohner von Flüchtlingsunterkünften frei in der Stadt bewegen und nach Belieben auch über Nacht wegbleiben.

„Ist ja kein Gefängnis“, sagt auch Peter Berger. Aber eigentlich sind Betreiber verpflichtet, Menschen, die drei Tage lang nicht auftauchen, als abwesend und ihren Platz als frei zu melden. So erklärt es das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), das Neuankömmlingen in Berlin Schlafplätze zuweist. Heute funktioniert die Verteilung problemlos, waren doch etwa im November vergangenen Jahres nur 54 Prozent aller Betten in Aufnahmeeinrichtungen belegt. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung war es hingegen eine logistische Großaufgabe, die Menschen zuzuweisen. Das Land Berlin stand beim Versuch, alle Ankommenden unterzubringen, vor großen Problemen.

Es gab einen Telefonservice für Karteileichen

„An die Vorgabe mit den drei Tagen hielt sich niemand“, unterstellt Peter Berger. „Stattdessen gab es einen Telefonservice für Karteileichen: Sie wurden angerufen, wenn etwa Post für sie gekommen war oder sie lange nicht aufgetaucht waren. Die Menschen kamen dann kurz rein, erledigten ihre Angelegenheiten und gingen wieder.“

Ein System von gezielt freigehaltenen Plätzen also? Einen finanziellen Nutzen hätte der Betreiber daraus kaum gehabt. Denn das LAF rechnete die Notunterkunft in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne im Gegensatz zu anderen Heimen nicht nach Bewohnern ab. Das kam, weil das Land hier kurzfristig über Betten verfügen konnte, sie etwa an Minderjährige oder Schwangere vergeben. Entsprechend zahlte das Amt Prisod eine Pauschale für Personal, Wachschutz und Reinigung. Nur das Geld, das der Betreiber für das Catering erhielt, schwankte mit der Belegung.

Der Vorteil sei aber anders entstanden, sagt Peter Berger. „Zimmer blieben leer, die Verwaltung konnte Menschen umverteilen – das war praktisch für die Abläufe.“ Auch Entlastung könne eine Rolle gespielt haben. „Der Druck war immens. Mit jedem Bewohner, den die Unterkunft weniger betreuen musste, ist er zumindest ein kleines bisschen gesunken. Personal konnte so gespart und an anderen Standorten eingesetzt werden.“

Prisod weist alle Vorwürfe zurück

Der Heimbetreiber weist alle Vorwürfe entschieden von sich. Erstens gäbe es von Prisod keine Vorgaben für die Verwendung von Kürzeln in Tabellen, sagt Janina Koschnick. Sie ist Sprecherin des Unternehmens, das in Berlin aktuell 16 Unterkünfte mit insgesamt etwa 5000 Bewohnern unterhält. „Es kann vorkommen, dass sich in Einrichtungen Kürzel etablieren. Dies sind jedoch keine offiziellen Kürzel.“

Die Bedeutung der Vermerke „L“, „1“ oder „2“ erschließe sich ihr nicht. Auch mutmaßt der Betreiber, die Tabellen könnten manipuliert worden sein. Alle Mitarbeiter etwa der Einrichtungs- und Hausleitung, der Verwaltung, des Sozialdienstes und der Ehrenamtskoordination hätten Zugriff auf die Excel-Listen der Bewohner gehabt.

Dazu komme, dass die Tabellen nur intern Verwendung fanden. „Es sind nicht diese Listen, die das LAF über die freien Plätze informierten. Das geschah über eine eigene Software“, erklärt Janina Koschnick. Es könne also sein, dass in den Tabellen für die Mitarbeiter vor Ort noch Personen auftauchten, die bei offizieller Stelle lange ordnungsgemäß abgemeldet waren. Eine Anfrage, die Namen auf den Listen und in der Software zu vergleichen, lehnt Prisod unter anderem aus Datenschutzgründen ab.  

Es scheint schwer vorstellbar, dass jemand die Liste manipuliert hat

Dem Tagesspiegel liegt eine Fülle, tausende einzelne Tabellen. Hochgerechnet auf drei Jahre gibt es insgesamt mehr als eine Million Zeilen mit Bewohnernamen. Es scheint schwer vorstellbar, dass jemand die Listen manipuliert hat. Auch erschließt sich kaum, warum in der Verwaltungssoftware über Monate hätte ein aktuellerer Stand auftauchen sollen als in den operativen Listen, mit denen Mitarbeiter im Haus arbeiteten.

Maik Weber hatte mit den Tabellen in seiner Funktion nur am Rande zu tun. Sein Name ist ebenfalls verfälscht, er ist ein ehemaliger Kollege von Peter Berger – und hat andere von dessen Schilderungen selbst beobachtet. „Etwa, dass Menschen, die länger nicht da waren und sich nicht von selbst meldeten, von der Verwaltung angerufen wurden“, sagt Weber. Für ihn könnte das Vorgehen empathisch motiviert gewesen sein: „Nur so konnten auch Menschen mit ungeklärtem Asylstatus, die eigentlich noch die Auflage hatten, in der Unterkunft zu wohnen, bei Familie oder Freunden leben“, sagt er.

Die Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne ist seit Januar keine Notunterkunft mehr

Die junge Frau aus Syrien und ihr Bruder blieben damals bis Anfang 2016 bei ihren Bekannten. Jeden Tag steht in der alten Bewohnerliste der Vermerk „L“ hinter ihren Namen. Dann bekamen sie ihren Aufenthaltstitel, in einer für damalige Verhältnisse beinahe rekordverdächtigen Zeit von nur ein paar Monaten. Von nun an war das Jobcenter für sie zuständig. Sie hatten Glück, fanden eine kleine Wohnung – und ihre Namen verschwanden prompt aus der Tabelle.

Heute, sagt die junge Frau, denke sie noch manchmal zurück an diese Zeit. Sie hat noch Kontakt zu Helfern und ehemaligen Mitbewohnern aus der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne. Die ist seit Januar keine Notunterkunft mehr, alle verbliebenen Bewohner zogen im Dezember aus. Eigentlich soll das marode Gebäude umgebaut werden, Polizei und Zoll wollen es künftig nutzen.

Doch der Senat verlängerte kurzfristig den Mietvertrag und machte die Kaserne zu einer Außenstelle des Ankunftszentrums für Flüchtlinge in Tempelhof. Hier schlafen nun Menschen, die sonst in den Hangars des alten Flughafens hätten unterkommen müssen. Die Listenführung funktioniert jetzt anders.

Am 12. März veranstalten Senat und Bezirk für Anwohner eine Infoveranstaltung zur Zukunft der Kaserne. Auch das LAF und der Betreiber werden vor Ort sein – und Fragen beantworten.

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