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BerlinBücher: Im Kauen vereint

In beiden Teilen des geteilten Berlin hat Sigrun Casper gelebt und was sie darüber erzählt, geht nah. In klare, schöne Sätze kleidet die Autorin in dem Buch "Chagall ist schuld" ihre sensiblen Beobachtungen über das Alltagsgeschehen auf beiden Seiten der Mauer.

Graues, kurzes Haar über dem verhärmten Gesicht, die Schultern nach vorn gezogen, die schwarze Bluse ziert ein goldener Anhänger. Die ältere Frau sitzt vor einem Tisch, auf dem ein paar rote Tulpen liegen. „Die Ausgezeichnete“ heißt dieses Bild von Wolfgang Mattheuer, das 2006 in der Ausstellung „Melancholie“ der Neuen Nationalgalerie zu sehen war. Ein trauriges Bild, das Sigrun Casper wohl umso mehr berührt, weil sie nicht nur mit dem Westblick auf den Ost-Ehrentag für „den Helden der Arbeit“ schaut. In beiden Teilen des geteilten Berlin hat sie gelebt und was sie darüber erzählt, geht nah.

Aufgewachsen in Kleinmachnow, arbeitet Sigrun Casper nach dem Abitur als Verkäuferin in der Deutschen Bücherstube in der Friedrichstraße. 1959 war das, und im „besten Kunsthandwerksgeschäft weit und breit“ gab es handgewebte Tischdecken, Geschirr von Hedwig Bollhagen, Bilder von Arno Moor, Otto Niemeyer-Holstein oder Helena Scigala. Und Kunden wie Anna Seghers, das Ehepaar Zweig, Helene Weigel, John Heartfield. Aber auch jene Schnäppchenjäger aus dem Westen, die „keine Achtung vor der Arbeit des Kunsthandwerkers hatten“ und die kostbare Ware nicht zu würdigen wussten. „Das spürte ich daran, wie sie die Sachen anfassten und lauernd nach dem Preis fragten“, erinnert sich die Autorin.

So, als säße man als Leser mittendrin, beschreibt sie die weltoffene, bunte Atmosphäre im legendären Pressecafé. Sogar nach dem Bau der Mauer soll dies noch ein besonderer Ort gewesen sein: „Hier saßen, tranken, aßen, unterhielten sich und warteten nach wie vor Leute ohne eingezogene Köpfe.“

Am Nachmittag des 30. Dezember 1961 verlässt Sigrun Casper die DDR mit dem Pass einer Schweizerin. Wie sich diese Flucht im Detail abgespielt hat, liest sich spannend wie ein Krimi. 1967 traut sie sich zum ersten Mal wieder „auf die andere Seite“. Wird sechs Stunden im Polizeipräsidium Alexanderstraße festgehalten und darf dann doch zu den Verwandten in Treptow. Später fährt sie öfter hin, mit zwiespältigen Gefühlen. Überlegt vorher genau, was sie anzieht. Rock oder Hose, flache Schuhe oder solche mit Absätzen. Will nicht angeben, keine Vorurteile bedienen, keinen Frust auslösen. Nach der „Verkleidung“ blickt sie in den Spiegel. „Eine graue Maus schaut mich befremdet an. Kein Schick, kein Schlamp.“

Bei den Verwandten wird viel gegessen. „Kauen eint“, schreibt die Autorin, kauen verhindert, dass man viel reden muss. In den Geschichten werden die Risse und Brüche deutlich, die von der Teilung herrühren. Um Notlügen geht es, um Versteckspiele, um Trotz und Trauer. Auch darum, dass der Westen keineswegs nur golden war.

Ihre sensiblen Beobachtungen kleidet die Autorin in klare, schöne Sätze. Einige Episoden sind ein wenig zu pathetisch geraten, doch in den meisten fängt Sigrun Casper das Alltagsgeschehen auf beiden Seiten ungefärbt und schonungslos ein, lässt im Rückblick nichts weg und mogelt nichts hinzu.

Sigrun Casper: Chagall ist schuld. Ost-West-Geschichten., Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, Berlin. 222 Seiten, 9, 90 Euro

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