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Türkei-Fans

© Oliver Wolf

Berlin: Im Wechselbad der Gefühle

Für die Berliner Türken wurde das Spiel gegen die Schweiz zum Fußball-Thriller, der in einem triumphalen Siegeskorso endete. Nach dem Schlusspfiff brach überall in der Stadt der Jubel los.

Minutenlang ging gar nichts mehr auf der Kreuzung Tauentzien- und Nürnberger Straße. Das Spiel in Basel war nicht mal eine Viertelstunde aus, da begann sich der Siegeskorso der triumphierenden türkischen Fans über den Kurfürstendamm zu formieren. Von Minute zu Minute wurden es mehr Wagen unter der Halbmondfahne, und dann übten Fans zu Fuß auch noch auf der Kreuzung die La-Ola-Welle, setzten sich auf die Fahrbahn, sprangen wieder auf und reckten die Arme, setzten sich wieder – bis die Polizei freundlich, aber energisch dem Treiben ein Ende bereitete und das Blechband der nun schon mehreren hundert Autos wieder ins Fließen kam.

Welch eine Achterbahn der Gefühle, welch ein Wechselbad von anfänglicher Verzweiflung, nein, eher Schock – dann wieder das heiße Auflodern der Hoffnung und zuletzt der lautstark sich entladende Triumph. Überall hingen die türkischen Fans der Stadt gestern Abend vor Fernsehern und Leinwänden, so wie ihre rund 100 Landsleute, die sich zu dem doch so unendlich wichtigen Spiel ihrer Nationalmannschaft gegen die Schweiz in der Kreuzberger Admiralstraße versammelt hatten, im Fanlokal von Türkiyemspor Berlin. 60 Stühle passen da normalerweise rein, gestern waren es fast doppelt so viele, plus zweier Fernseher, auf denen das meist männliche Publikum das Spiel gebannt verfolgte. Zwar auf der Seite ihrer Mannschaft, aber doch nicht unfair, die Aktionen der Schweizer eher gelassen hinnehmend, keine Schmähungen, dafür kritisch gegenüber den eigenen Jungs.

Aber natürlich überwogen die „Türkiye, Türkiye“-Rufe, das Klatschen, Jubeln, Johlen, nachdem der Schock des Schweizer Tores abgeklungen war. Schon als der ersehnte Ausgleich fiel, krachten draußen die ersten Böller, Raketen zischten in den Himmel, und im Fanlokal ging es hoch her. Aber gar kein Vergleich zu dem, was losbrach nach dem Siegestor in der Verlängerung. Stühle wurden zur Seite gekickt, um Platz zu schaffen zum Feiern und Tanzen, die Fans umarmten sich, hoben sich gegenseitig in die Höhe, zogen dann fahnenschwenkend los Richtung Kottbusser Tor.

Auch in Neukölln hatte sich das Bild auf den Straßen in Minutenschnelle nach dem Schlusspfiff gewandelt. Ob auf der Hermann- oder der Karl-Marx-Straße – überall Autos voller jubelnder Menschen, fahnenschwenkend und immer wieder „Türkiye, Türkiye“ rufend. Auch viele Cabrios waren zu sehen, deren weit hinausgelehnte Insassen sich um die Gefährlichkeit ihrer ausgelassenen Stimmung keine Gedanken machten. Raketen auch hier, Menschen, die sich in den Armen lagen und sich gegenseitig beglückwünschten.

Tagsüber hatten die türkischen Fans noch eher Gelassenheit gezeigt. „Wer gut in Form ist, soll weiterkommen“, sagte etwa Ersoy Yilmaz, der in der Köpenicker Straße ein Stehcafé besitzt. Das Spiel hatte eine gewisse Brisanz: Vor zweieinhalb Jahren war die Türkei nach einem 4:2 in Istanbul in der WM-Qualifikation gegen die Schweiz ausgeschieden. Das Stadion verwandelte sich in einen Hexenkessel, das Schweizer Team musste Tritte und Schläge einstecken.

„Wenn wir nicht weiterkommen, ist das auch kein Weltuntergang“, hatte sich Bekir Yilmaz, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde zu Berlin, vorsorglich getröstet, aber das war ja dann überflüssig. Zumal: „In einem Herzen haben wir zwei Mannschaften“, sagte Yilmaz fast poetisch. Fliegt die türkische Mannschaft raus, drücken die Fans der deutschen die Daumen. Aber daran war gestern Abend nicht zu denken.

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