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Petrowsky Sellhorn

© Doris S. Klaas

Jazzszene: Volkslieder verunstalten

Frech dichten und frei spielen: Die Kultveranstaltung „Jazz Lyrik Prosa“ gastiert Sonntag beim Jazzfest Köpenick.

Eine mit Platten und Büchern vollgestopfte Wohnhöhle in Prenzlauer Berg. Louis Armstrong an der Wand und im Aschenbecher qualmt die Zigarette. Klarer Fall: Hier lebt ein Urgestein. Und ein weiteres ist zu Besuch und sitzt klug spaßend auf dem Ledersofa. Gastgeber Josh Sellhorn, 77, ist Musikwissenschaftler, Erfinder und Moderator der Kultveranstaltungsreihe „Jazz Lyrik Prosa“. Er und sein alter Freund, Saxophonist Ernst-Ludwig Petrowsky, 73, werden als „Urgesteine der DDR-Jazzszene“ tituliert. Solche abgenudelten Worthülsen klingen nach ausgebrannten Altkünstlern und nicht nach dem Träger des wichtigsten deutschen Jazzpreises wie Petrowsky oder einem, der nach 30 Jahren Pause eine Konzertreihe erfolgreich reanimiert wie Sellhorn. Schon nach den ersten Plauderminuten ist gewiss, dass unter diesen grauen Köpfen heiße Herzen brennen.

Das hat auch Satiriker Wiglaf Droste, 46, schnell gemerkt, der Sonntag mit Schauspieler Edgar Külow bei „Jazz Lyrik Prosa“ im Rathaushof Köpenick für bissige Wortbeiträge zuständig ist. Seit über acht Jahren ist er der Quoten-Wessi unter den Ostkünstlern. Wie das kam? „Ich wurde eingeladen, mal mit im Tränenpalast aufzutreten, und traf da nur musikalische Granaten.“ Ernst-Ludwig Petrowsky sei ein Seelenverwandter. „Ich mag seinen widerständigen Humor, die Hingabe und Musikalität.“ Bis Droste auftrat, war’s ein eher ostalgischer Abend, erinnert sich Petrowsky. „Aber dann schoss der eine Breitseite nach der anderen gegen Ostrockmusik ab, und ich musste ihm Personenschutz anbieten“, grinst der gebürtige Mecklenburger.

Ist „Jazz Lyrik Prosa“ eine Ostalgie- Veranstaltung? Nein, sagt Josh Sellhorn, zum jährlichen Auftritt in die Komische Oper kämen genauso viele Westler wie Ostler. Allerdings klappe es mit Engagements in den alten Bundesländern nicht. „Da kennen sie Schauspieler wie Ursula Karrusseit oder Annekathrin Bürger nicht“, vermutet Sellhorn. Für Zuhörer im Osten sei es dagegen ein Stück Erinnerung. „Aber ohne ostalgisch zu sein“, meint auch Wiglaf Droste. Die seien „zwischen 18 und 80, aufmerksam und neugierig“. Nicht wie dieses „in Aspik eingelegte Publikum“ westdeutscher Kabarettisten.

Begonnen hat „Jazz Lyrik Prosa“ Mitte der Sechziger, als Sellhorn – damals Lektor im Verlag Volk und Welt – sich mit Manfred Krug und den „Jazz-Optimisten“ zusammentat, um Rezitationsabende zu veranstalten. „Die waren frech und lustig und hatten einen aufmuckenden, subversiven Touch“, erinnert sich der wacker mit der Zensur ringende Sellhorn. Eberhard Esche, Wolf Biermann und viele andere sorgten für rauschende Erfolge – bis der Ärger mit der Obrigkeit 1967 zu groß wurde. Dann war bis zur Wiederauferstehung vor zehn Jahren Funkstille.

Manfred Krug habe ihm mal geraten, erzählt Josh Sellhorn, wenn er als Ansager lange bestehen wolle, solle er nur so viel sagen wie unbedingt nötig. „Und so mache ich’s auch. Ich sage die Nummern an, aber bin selber keine.“ „Bist du doch!“, protestiert Freund Ernst-Ludwig Petrowsky prompt. Er spielt Sonntagabend erstmals mit der legendären Jazzformation Zentralquartett bei „Jazz Lyrik Prosa“. Dazu gehören der Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer, Posaunist Conny Bauer und Pianist Ulrich Gumpert. Welchen Stil? „Volkstümlichen Freejazz ohne elitäre Attitüde“, sagt Petrowsky und lächelt ironisch, „Volkslieder verunstalten und so.“ Wiglaf Droste, der sich unter anderem Ost-West-Phänomenen widmen wird, ist sehr gespannt auf das erstmals komplett bei „Jazz Lyrik Prosa“ versammelte Zentralquartett. „Das sind großartige Musiker“, sagt er.„Und ich find’s schön, dass Baby Sommer mal mit einem richtigen Schriftsteller auftritt, statt immer nur mit Günter Grass.“ Gunda Bartels

„Jazz Lyrik Prosa“ ist Sonntag um 18.30 Uhr im Köpenicker Rathaushof zu hören. An der Abendkasse kosten die Karten knapp 22 Euro.

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