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Niederschönhausen: Heimatortsteil der sozialistischen Nomenklatura. Hier das sowjetische Ehrenmal.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Niederschönhausen: Wo das Kapital gesiegt hat

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 64: Niederschönhausen.

Wäre der Sonderzug, den Udo Lindenberg besang, tatsächlich nach Pankow gefahren, hätte die Endstation im Ortsteil Niederschönhausen gelegen. Hier, im sogenannten „Städtchen“, dem Villenviertel am Majakowskiring, wohnten sie früher alle, die Oberindianer der DDR: Walter Ulbricht (Hausnummer 28), Wilhelm Pieck (29), Otto Grotewohl (46), Johannes R. Becher (34), Günter Schabowski (63), Erich Honecker (14) und viele andere.

„Lange her“, sagte eine ältere Passantin, die ich fragte, ob in Niederschönhausen immer noch DDR-Prominenz lebe. „Alle tot.“

Ich fand den Heimatortsteil der sozialistischen Nomenklatura in einem Zustand fortgeschrittener Bourgeoisierung vor. Mittelklassewagen parkten vor neu gebauten Einfamilienhäusern, die in den letzten Jahren offenbar in jede Baulücke zwischen den älteren Villen gequetscht worden waren. Familien in hochwertiger Funktionskleidung flanierten durch den Ortskern. In einem Restaurant mit gediegener Bio-Küche hörte ich einen kleinen Jungen seinen Burger rezensieren. „Ich finde ja, man muss es mit der Sauce nicht übertreiben“, erklärte er mit blasierter Stimme seiner Mutter. „Die hat so einen Eigengeschmack, der nicht wirklich leicht ist. Da ist der Käse schon noch das Niceste.“ Ich schwöre, er sagte wirklich „das Niceste“.

Seit klar ist, dass Tegel geschlossen wird, steigen die Mieten rasant

Als ich schon glaubte, in Niederschönhausen habe das Proletariat den Klassenkampf endgültig verloren, entdeckte ich den „Kummerkasten“. Die Kneipe lag versteckt in einer Seitenstraße. Am Tresen saßen vier kettenrauchende Stammgäste. Sie waren wenig begeistert von der Entwicklung, die ihr Ortsteil in den letzten Jahren genommen hatte. Angefangen, erzählten sie, habe alles mit der Ankündigung, dass Tegel geschlossen werde – daraufhin seien in Niederschönhausen die Wohnungspreise durch die Decke gegangen. „Ich will gar nicht wissen“, sagte eine Frau verzweifelt, „was passieren wird, wenn hier wirklich mal keine Flugzeuge mehr fliegen.“

Die Frau hieß Jana und trank nicht den ersten Rotwein. Sie erzählte mir, dass sie in den Hackeschen Höfen aufgewachsen war, zu einer Zeit, als es dort keine Theater, Designläden und Bars gab, sondern schmutzige Autowerkstätten und enge Arbeiterwohnungen. Ihr Vater war der letzte Hausmeister der DDR-Ära gewesen, der in den Hofaufgängen abends das Licht anknipste und morgens wieder aus. Es kam vor, dass er nicht in der Lage war, mit dem Finger den Lichtschalter zu treffen, dann schickte er Jana durch die Höfe.

Nach der Wende hatte es Jana schrittweise aus der Mitte der Stadt an den Rand verschlagen. Zuletzt hatte sie innerhalb von Niederschönhausen umziehen müssen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten konnte. Ihre jetzige Wohnung habe vor ein paar Jahren ein Münchner gekauft. „Ich hoffe, der hat keine Kinder, die irgendwann hier studieren wollen“, sagte Jana düster. „Wenn ich noch mal eine Eigenbedarfskündigung im Briefkasten finde, dann ...“ Sie stockte. Trank einen Schluck Rotwein. „Dann ...“ Sie ließ den Satz unvollendet.

Ich verließ Niederschönhausen in der Hoffnung, dass Tegel nie geschlossen wird – und dass die Kinder eines gewissen Münchner Immobilienbesitzers Berlin nicht leiden können.

Fläche: 6,49 km² (Platz 60 von 96)
Einwohner: 30 662 (Platz 42 von 96)
Durchschnittsalter: 43,1 (Berlin: 42,7)
Lokalpromi: Bolle (Krawalltourist in der Schönholzer Heide)
Gefühlte Mitte: Ossietzkyplatz
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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