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Am ehemals südlichsten Punkt West-Berlins. Skulptur der Bildhauerin Kerstin Becker zum 20. Jahrestag des Mauerfalls.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo die Mauern wiederkehren

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 49: Lichtenrade.

Die Verkäuferin in der Bäckerei am S-Bahnhof Lichtenrade fragte mich, ob ich öfter in der Gegend sei. „Ich kann ihnen eine Sammelkarte geben, dann ist der zehnte Kaffee umsonst.“ Ich zögerte – der Kaffee war nicht schlecht, aber ich war nicht sicher, wann ich das nächste Mal am südlichen Stadtrand vorbeischauen würde. „Gibt es denn einen Grund, öfter hier zu sein?“, fragte ich. Die Verkäuferin dachte lange nach. „Nein“, sagte sie am Ende.

„Außer vielleicht den Ententeich“, fügte ihre Kollegin hinzu.

Der Ententeich liegt in der Mitte des alten Dorfangers, der in Lichtenrade so gut erhalten ist wie in kaum einem anderen Berliner Ortsteil. Ein Ring aus niedrigen Bauernhäusern umschließt eine schilfumwehte Wasserfläche, daneben ragt der feldsteingefügte Turm einer mittelalterlichen Kirche in den Himmel. Die Kirchentür war verschlossen, aber drinnen hörte ich einen Organisten proben. Er spielte etwas von Bach. Durch ein Fenster konnte ich schemenhaft erkennen, wie der Oberkörper des Mannes vor und zurück schaukelte. Ich hörte zu und sah auf den verregneten Dorfanger hinaus, bis ich mir nicht mehr ganz sicher war, in welchem Jahrhundert ich mich befand.

Der Name Bushido war ihnen fremd. "Ist der schon älter?"

Lichtenrade ist überregional bekannt dafür, dass Klaus Wowereit hier Abitur gemacht hat – an einer Schule, von der ich gerüchteweise gehört hatte, dass auch der Rapper Bushido dort Schüler war. Hatten der ehemalige Bürgermeister und der regierende Bürgerschreck dieselbe Schulbank gedrückt? Um es herauszufinden, sprach ich vor dem Ulrich-von-Hutten-Gymnasium zwei Teenager in Hip-Hop-Klamotten an. Ratlos sahen die beiden mich an. Der Name Bushido war ihnen fremd. „Ist der schon älter?“, fragten sie. Falls Bushido hier wirklich mal Gymnasiast war, hat Lichtenrade ihn gründlich vergessen.

Ansonsten schien es im Ortsteil nur ein einziges Thema zu geben: den geplanten Ausbau der Dresdener Bahn. Die Lichtenrader S-Bahn-Trasse soll um vier Schnellzuggleise erweitert werden, auf denen künftig mehrere hundert Züge am Tag Richtung Dresden und weiter nach Prag und Budapest verkehren könnten. Überall in Lichtenrade sah ich Protestplakate gegen das Bauprojekt.

"Wir lebten in der ruhigsten Ecke der Stadt"

Als ich eine Anwohnerin auf die Plakate ansprach, bekam ich einen langen Monolog über die Entwicklung der Lichtenrader Immobilienpreise zu hören. Bis 1989, sagte sie, sei der Wert der Einfamilienhäuser hier stetig gestiegen, weil der Ortsteil dank Mauer eine Sackgasse komplett ohne Durchgangsverkehr war. „Wir lebten in der ruhigsten Ecke der Stadt“, sagte die Frau. Als nach dem Mauerfall dann die Lkw und S-Bahnen wieder durch Lichtenrade rauschten, habe der Sinkflug der Immobilienpreise begonnen – und seit dem Entscheid für die Dresdener Bahn seien sie komplett abgestürzt.

„Immerhin steht hinter ihrem Garten jetzt keine Mauer mehr“, sagte ich, um die Frau etwas aufzuheitern. Sie deutete müde lächelnd auf das Protestplakat. Auf einer Zeichnung waren die hohen Lärmschutzwände zu erkennen, die nach dem Streckenausbau den ganzen Ortsteil durchziehen sollen. „Die eine Mauer geht“, sagte die Frau, „die andere kommt.“

Sieh an, dachte ich – es gibt in dieser Stadt also auch Wessis, die sich als Wendeverlierer sehen.

Fläche: 10,1 km² (Platz 35 von 96)
Einwohner: 50.594 (Platz 25 von 96)
Durchschnittsalter: 46,8 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Klaus Wowereit (Abiturient), Paul Fechter (Journalist und Schriftsteller)
Gefühlte Mitte: Bahnhofstraße
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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