zum Hauptinhalt
Die Schlange vor der Gerhard-Richter-Ausstellung.

© dapd

Vor der Neuen Nationalgalerie: Gelogene Wahrheit über Gerhard Richters "Tante Marianne"

Im Informationsblatt zu der Gerhard-Richter-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie gibt es eine verharmlosende Formulierung zum Tod von Tante Marianne, die im Zuge des Euthanasieprogramms der Nazis ermordet worden war.

Sie windet sich wieder. Seit zwei Monaten schon. Die Schlange vor der Neuen Nationalgalerie. Nicht ganz so kurvenreich wie damals zu MoMA- Zeiten, aber doch von eindrucksvoller Länge. Mehr als 250 000 Besucher sind seit dem 12. Februar in die große Gerhard-Richter-Ausstellung gekommen, gut 4000 pro Tag. Und die Zahl wird jetzt, da die Schau in ihren letzten Monat geht, noch einmal kräftig ansteigen. Wieder einmal ein respektabler Erfolg für die Staatlichen Museen zu Berlin.

Wer in dieser Schlange steht, braucht Geduld und Zeit. Eine Stunde, zwei Stunden, an manchen Tagen nur eine halbe. Was tut man, um sich die Zeit des Wartens zu vertreiben? Man könnte zum Beispiel in jenem Informationsblatt lesen, das vor dem Eingang ausliegt und dem Besucher allerlei zu des Malers Leben und Werk sowie zum Ausstellungskonzept mitteilt. Natürlich ist darin auch von einem der berühmtesten Richter-Bilder die Rede, von seiner „Tante Marianne“, gemalt nach einem Foto, das die damals 14-jährige Marianne Schönfelder zeigt. Und von der ist nun Erstaunliches zu lesen. Nämlich dass sie – und nun wörtlich – „an Schizophrenie leidend im Zuge des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms in einer Anstalt für geistig Kranke verstarb“.

Es ist der Augenblick, an dem einem beim Lesen und Warten der Atem stocken möchte. Sie „verstarb“. Eine Wahrheit, und doch eine Lüge. Als wüsste nicht jeder, was mit den Euthanasieopfern wirklich geschah. Als hätte nicht der Journalist Jürgen Schreiber ein ganzes Buch über das grauenhafte Schicksal von Richters „Tante Marianne“ geschrieben („Ein Maler aus Deutschland“).

Marianne Schönfelder „verstarb“ nicht, sie wurde ermordet, starb den „Medikamenten-Hunger-Tod“. Verendete elend am 16. Februar 1945 in der Psychiatrie des sächsischen Großschweidnitz, nachdem sie zuerst zwangssterilisiert und dann jahrelang mit einer Überdosis an Tabletten und systematischer Unterernährung zu Tode gequält worden war. Wie mehr als 400 000 andere auch.

Für die Staatlichen Museen aber verstarb sie einfach.

Niemand möchte hier böse Absicht unterstellen. Aber was ist es dann? Ahnungslosigkeit? Geschichtsvergessenheit? Schlamperei? Zumindest ist es ein Grund, das peinliche Informationsblatt sofort aus dem Verkehr zu ziehen. Und den Wartenden in der Schlange, die in den Schlusswochen an Länge und Windungen zulegen wird, die Wahrheit über „Tante Marianne“ zu sagen. Wolfgang Prosinger

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false