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Die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey, am Wahltag im September 2021

© Imago/Political-Moments

Was folgt aus der Berliner Pannen-Wahl?: Das Verfassungsgericht ist nicht für das Bestrafen der Politik zuständig

Die Verhandlung über die Gültigkeit der Wahl am Mittwoch stellt die Richter vor eine harte Aufgabe. Denn die einzig richtige Entscheidung gibt es nicht.

Ein Kommentar von Julius Betschka

Recht und Gerechtigkeit, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Das wird auch beim Umgang mit der Berliner Pannenwahl vom September 2021 deutlich. Dass sich eine solche nicht wiederholen darf, darüber sind sich alle einig. Schwieriger wird es bei der Frage, wie Fehler korrigiert werden können und ob die Wahl teilweise oder ganz wiederholt werden muss.

Darüber verhandelt an diesem Mittwoch das Berliner Landesverfassungsgericht. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Wahlergebnis in diesem Umfang wegen mangelhafter Durchführung des Urnengangs angezweifelt wird. Das große Dilemma: Eine wirklich gerechte Lösung kann es kaum geben.

Berlin hat die zusammengelegte Abgeordnetenhaus- und Bundestagswahl plus Volksentscheid und Marathon gehörig in den märkischen Sand gesetzt: falsche Wahlzettel, lange Schlagen, viel zu lang geöffnete Wahllokale, weggeschickte Wähler, wählende Nicht-Wahlberechtigte. Berliner Schluffitum ist keine Ausrede dafür.

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Etwas grundsätzlicher formuliert: Eine Demokratie, die ihre Wahlen nicht organisiert bekommt, stärkt ihre Feinde. In Zeiten, in denen der Autoritarismus weltweit auf dem Vormarsch ist, ist das eine besondere Fahrlässigkeit.

Anfangs hatte sich der Zorn vor allem gegen die politisch Verantwortlichen in Berlin gerichtet. Dann kam die Frage auf, wie die begangenen Fehler wiedergutzumachen sind. So treten bei Wahlwiederholungen nur in einzelnen Bezirken neue Ungerechtigkeiten auf: Die einen Wähler stimmen mit neuem Wissensstand ab, andere dürfen das nicht.

Was ist verhältnismäßig? Das ist die alles entscheidende Frage

Auch deshalb schließen Beobachter nicht mehr aus, dass das Landesverfassungsgericht die Wahl komplett wiederholen lässt. Aber nach welchen Grundsätzen könnte das geschehen? Und: Darf die frühere Fahrlässigkeit der politisch Verantwortlichen mitbestraft werden?

Das Bestrafen – das kann man bedauern oder auch nicht – spielt bei Wahlprüfungsverfahren keine Rolle. Zuerst wird vom Gericht geprüft, ob Wahlfehler aufgetreten sind. Dann, ob diese die Zusammensetzung des Parlaments verändert haben könnten. Anschließend folgt die Einschätzung, ob die Wiederholung einer Wahl verhältnismäßig wäre – wobei bereits abgegebenen Stimmen ein gewisses Bestandsrecht zugestanden wird. So argumentierte jedenfalls bisher das Bundesverfassungsgericht.

Zu fast allen Punkten gibt es unterschiedliche Sichtweisen: Sind lange Schlangen korrigierungsbedürftige Wahlfehler oder eine ärgerliche Unannehmlichkeit? Hätten Menschen, die ihre Stimme nicht abgeben konnten, die Zusammensetzung des Parlaments verändert oder kann man annehmen, dass sie ähnlich der Gesamtheit gewählt hätten?

Ab wie vielen Dutzend oder Tausend Fehlern ist es verhältnismäßig, Hunderttausende Wähler noch einmal an die Urne zu bitten, die korrekt wählen konnten? Waren die Grundsätze der Freiheit, Gleichheit und Allgemeinheit wirklich über ein Maß hinaus gefährdet, dass die Wahl ganz wiederholt werden muss?

Viele dieser Fragen lassen sich wohl nicht abschließend klären. Klar ist, dass die verpatzte Wahl nicht ungeschehen gemacht werden kann. Eine komplette Wahlwiederholung wäre der Versuch, die Geschichte dieser Wahl neu zu schreiben. Doch auch das birgt Gefahren: Es verwischt oft Fehler, aber repariert sie nicht.

Das Verfassungsgericht kann deshalb kaum die eine richtige Entscheidung treffen. Die Berliner Politik sollte sich auch im Sinne der eigenen Glaubwürdigkeit davor hüten, dies zu suggerieren. Das gilt erst recht für die damals Verantwortlichen. Je nach Sichtweise wird sich ein guter Grund für neue Ungerechtigkeiten finden.

Wichtig wird deshalb sein, dass das Gericht sauber begründet und für die Bürger nachvollziehbar macht, warum die Wahl wo wiederholt werden muss – oder eben: warum nicht. Dass das Gericht alle begangenen Fehler als folgenlos einordnet, ist allerdings kaum mehr vorstellbar.

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