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Passagiere steigen auf offener Strecke in der Nähe des FEZ aus dem liegengebliebenen Regionalexpress 2 aus.

© Lionel Kreglinger/Tagesspiegel

Regionalzughavarie in Berlin-Wuhlheide: Der Moment, wenn die Fahrgäste aus Verzweiflung die Fenster einschlagen

Klimaanlagenausfall, Lokschaden, weinende Kinder, kein Wasser, aggressive Passagiere – dann eine Evakuierung auf offener Strecke. Ein Sonntagsausflug mit dem RE2 endet für unseren Autor im Fiasko. 

Ein liegengebliebener Zug hat am späten Sonntagnachmittag zu Chaos am Freizeit- und Erholungszentrums Berlin-Wuhlheide geführt. Laut Angaben der Bahn sollen rund 300 Passagiere im Zug gewesen sein, die Feuerwehr spricht von bis zu 1200 Fahrgästen, die evakuiert werden mussten. Der Regionalexpress der Linie 2 war laut eines Bahnsprechers gegen 17.45 Uhr auf offener Strecke stehengeblieben – wegen einer Bremsstörung.

In der Folge musste die gesamte Bahnstrecke gesperrt werden, da vor Eintreffen der Einsatzkräfte einige Fahrgäste selbst – mithilfe der Notentriegelung – den Zug verließen. Über die Gleise wollten diese zum nächsten Bahnhof gelangen, wobei akute Lebensgefahr bestand, wie der Feuerwehrsprecher bekräftigte. Auch unser Autor war im Chaoszug.


Es ist 15.15 Uhr im brandenburgischen Doberlug-Kirchhain, als meine Theatergruppe und ich beschwingt vom Probenwochenende einen Regionalzug Richtung Cottbus besteigen. Dort angekommen nehmen wir den RE2 Richtung Nauen mit dem Fahrziel Ostkreuz. Der Zug ist schon bei Abfahrt sehr voll, und nicht alle Fahrgäste bekommen einen Sitzplatz.

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Unsere Vierergruppe findet im ersten Waggon hinter der Lok einen Platz. Im Zug befinden sich einige Familien mit teils sehr jungen Kindern, aber auch ältere Menschen sowie viele Wochenendausflügler mit ihren Fahrrädern, die im vorderen Waggon mitbefördert werden dürfen.

Das Wetter ist sonnig und sehr warm, um die 27 Grad, und wir hoffen darauf, dass die Klimaanlage bald anspringt, sobald der Zug sich in Bewegung setzt. Doch das wird die gesamte Fahrt nicht geschehen, was später noch eine Rolle spielen wird. Bei Lübbenau bleibt der Zug auf offener Strecke stehen – es erfolgt keine Durchsage, weshalb.

Wie sich herausstellt, gibt es ein Problem mit einer Tür, die sich in unserem Blickfeld befindet. Nach einiger Zeit erscheint eine Zugbegleiterin und klebt gelbe „Tür-defekt-Schilder“ an selbige. Auf Rückfragen von Reisenden reagiert sie abweisend und gestresst.

Die Zugfahrt wird nach etwa 30 Minuten fortgesetzt, und die Temperatur im Waggon steigt durch die Sonneneinstrahlung und die vielen Menschen merklich an. Einige müssen in den Gängen stehen, einige sitzen vor den Türen. Viele Menschen versuchen, sich mit improvisierten Fächern etwas Luft zu verschaffen – zu öffnende Fenster sind in den Doppelstockwagen lediglich auf den Toiletten vorhanden.

Wir entscheiden uns, unsere Koffer in die Türen zwischen den Abteilen zu stellen, um etwas Frischluft aus den Zwischenräumen zwischen den einzelnen Wagen zu bekommen. Als sich der Zug im Bereich Wuhlheide/Köpenick befindet, kommt es zu einer ruckartigen Bremsung des Zuges. Es fühlte sich an wie eine Notbremsung. Die Verunsicherung im Waggon ist spürbar, doch niemand gerät in Panik.

Eine Frau schlägt ein Fenster ein

Das ändert sich abrupt, als plötzlich eine aufgebrachte Frau mit hochrotem Gesicht durch den Zug stürmt. Sie schreit laut, nicht auf Deutsch, es klingt wie Polnisch – sie verhält sich panisch, vielleicht auch unter dem Einfluss von Alkohol oder anderen Drogen. Sie ergreift den Notfallhammer am benachbarten Fenster, unter dem drei jugendliche italienische Mädchen sitzen, und fängt an, auf den roten Punkt auf dem Fenster einzuschlagen, der dazu da ist, im Notfall einen Ausstieg zu ermöglichen.

Glassplitter fliegen durch die Luft, die Mädchen retten sich von ihren Plätzen. Es gelingt der verwirrten Frau nicht, die Scheibe komplett aus der Fassung zu schlagen, also rennt sie schreiend weiter Richtung Zugende.

Alle Menschen im Abteil sind in Schockstarre und wissen nicht, wie sie reagieren sollen. Kurze Zeit später erscheint ein kräftiger Mann, der ebenfalls hochrot ist und sehr aggressiv auf Polnisch herumbrüllt. Auch ihm scheint die Hitze dermaßen zugesetzt zu haben, dass er sich panisch verhält – seine Wasserflasche kippt er sich über Kopf und T-Shirt. Ob die beiden sich näher kannten, ist unklar, aber sie hatten zuvor zusammen auf dem Boden vor der defekten Türe gesessen. Wir sind sehr erleichtert, als er unser Abteil verlässt.

Ich gehe zum Türbereich bei den Ausstiegen und versuche einen Notruf zum Lokführer über die dafür vorgesehene Anlage abzusetzen. Vergeblich – lediglich ein rotes Kreuz leuchtet dort und signalisiert offenbar den Defekt. Ein kompletter Stromausfall kann nicht vorliegen – die Informationstafeln im Zug gehen noch.

Kein Personal zu sehen

Wir Passagiere versuchen uns gegenseitig zu beruhigen und hoffen auf Durchsagen oder Hilfe vom Bordpersonal. Nichts geschieht! Mehrere ältere Menschen stehen kurz vor einem Kreislaufkollaps.

Man kann spüren, wie der Aggregatzustand der Nerven sich ändert. Alle im Abteil haben inzwischen ihre Wasservorräte aufgebraucht, Kinder weinen, es gibt kein Personal, das beruhigend oder anderweitig handelnd in Erscheinung tritt.

Es fühlt sich wie ein absurdes Experiment am lebenden Menschen an – wer reagiert panisch, wer bleibt ruhig, wer ist für die anderen da, wer braucht Zeit für sich selbst. Im vorderen Abteil fängt eine Gruppe älterer Menschen an zu beten. Als ich das Vaterunser höre, komme ich mir vor wie in einem überdrehten Katastrophenfilm. „Ist das hier jetzt gerade echt?“

Zwei Soldaten ergreifen die Initiative

Zwei Bundeswehrsoldaten in Uniform ergreifen schließlich die Initiative, gehen nach vorne, öffnen eine Tür, verlassen den Zug und nehmen offenbar Kontakt mit dem Lokführer auf. Jedenfalls kommt einer der beiden wenig später durch den Zug gelaufen und gibt uns die Information, dass die Lok defekt sei und wir nicht weiterfahren könnten. Er geht durch den gesamten Zug und gibt die Information persönlich an die Leute weiter.

Eine weitere Dreiviertelstunde vergeht, bis die erste Durchsage des Personals kommt, es gebe einen technischen Defekt am Triebfahrzeug und wir müssten nun wohl auf eine Ersatzlok warten.

Mehrere Türen werden jetzt geöffnet von den Soldaten. Die Menschen brauchen dringend mehr Frischluft. Unkontrolliert steigen Menschen aus und begeben sich damit in Gefahr – neben dem Gleisschotter ist ein Abhang hinunter in waldiges Gebiet.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis draußen endlich Beamte der Bundespolizei erscheinen. Eine Frau in unserem Abteil hatte die 110 gewählt – sie war nicht die Einzige.

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Die Beamten stehen draußen, keiner besteigt zunächst den Zug – es dauert wieder sehr lange, bis eine Durchsage erfolgt. Diesmal von der Polizei selbst. Es sei eine Evakuierung des gesamten Zuges geplant – wie und wann, bleibt offen. Wir sehen Menschen bereits im Gleisbett, die aufgeregt mit den wenigen Beamten diskutieren.

Langsam treffen im Waldstück erste Rettungswagen ein, und auch Feuerwehrleute sind jetzt zu sehen, als wir aus den geöffneten Türen schauen. Zumindest etwas frische Luft, doch wir alle haben weiter Durst und bekommen keine Informationen, was zu tun sei.

Auf eigene Gefahr die Böschung hinunter

Letztlich steigen wir mit unserem Gepäck aus dem Waggon. Wie ältere oder körperlich beeinträchtigte Menschen die eineinhalb Meter von der Zugkante ins Schotterbett schaffen sollen, ist unklar. Es wirkt surreal, wie die vielen Hunderten Menschen neben dem Zug an der Böschung stehen und darauf warten, Anweisungen von den Beamten zu bekommen.

Es vergeht erneut viel Zeit. Ein Familienvater verliert die Nerven und will mitsamt Familie und Rädern an uns Wartenden vorbei und Richtung Lok. Die Polizisten halten ihn auf. Die Evakuierung in Richtung FEZ in der Wuhlheide sei nun doch vom Ende des Zuges aus geplant. Zunächst waren andere Informationen im Umlauf gewesen.

Meine Gruppe und ich schließen uns letztlich gegen 19.30 Uhr (nach über zwei Stunden Stillstand also) den Menschen an, die nicht weiter an dem laut zischenden Zug stehenbleiben wollen und gehen „auf eigene Gefahr“ die Böschung hinab.

Nachdem wir über Waldwege und eine Bundesstraße zum S-Bahnhof Wuhlheide gefunden haben, macht sich etwas Erleichterung breit. Die Getränkeautomaten auf den Bahnsteigen sind zwar leer und die S-Bahn Richtung Ostkreuz ist voll. Doch wir alle sind froh, endlich wieder fahrenden Boden unter den Füßen zu haben. Dieser Tag wird lange nachhallen. Das Vertrauen in die Krisenreaktionsfähigkeit der Deutschen Bahn, aber auch der beteiligten Einsatzkräfte ist durch ihn nicht gewachsen.

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