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18.11.2022, Hessen, Frankfurt/Main: Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie e. V. (BDI),  spricht während eines Panel auf dem Kongress in der Alten Oper. Unter dem Motto ·Coping with transformational change· findet der 32. European Banking Congress in Frankfurt statt. Foto: Hannes P. Albert/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

© dpa/Hannes P. Albert

„Die Industrie finanziert den Wohlstand“: Welche Reformen der BDI-Präsident jetzt von der Politik fordert

Siegfried Russwurm wird am 28. November als Industriepräsident wiedergewählt. Im Interview zieht er Bilanz der ersten zwei Jahre und blickt nach vorn.

Herr Russwurm, Sie werden an diesem Montag für weitere zwei Jahre zum Industriepräsidenten gewählt. Was haben Sie noch vor?
Seit Kriegsbeginn sind Regierung und Unternehmen und damit der BDI vor allem mit Krisenbewältigung beschäftigt. Die längerfristigen Herausforderungen für unseren Standort sind aber nicht verschwunden: Wie geht es weiter mit dem Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu Klimaneutralität, wie beschleunigen wir die Digitalisierung?

Vor allem beim digitalen Staat sehen wir riesigen Aufholbedarf. Und wie gehen wir mit der Demografie um? Arbeitskräfte fehlen an allen Ecken und Enden.

Als einer der Vorsitzenden der Gaspreiskommission haben Sie mitgewirkt am staatlichen Eingriff im Markt. Wie schwer war das für Sie?
Unser Vorschlag bewahrt eine ganze Menge Markt. Für die großen Verbraucher in der Industrie haben wir nicht den Endverbrauchspreis gedeckelt wie bei den privaten Haushalten mit zwölf Cent. Für die Industrie setzen wir einen Beschaffungspreis bei sieben Cent an. So kann der Wettbewerb der Energiehändler weiter funktionieren.

Trotzdem: Corona, Krieg und Energiekrise haben zum Anstieg der Staatsquote auf mehr als 50 Prozent beigetragen. Der fürsorgende Staat macht sich breit.
Wir müssen unseren Unternehmen und den Bürgerinnen und Bürgern mehr Eigenverantwortung zutrauen. Beispiel Corona: Es war gut, dass die Unternehmen mit ihren Betriebsräten vor Ort selbst entscheiden konnten, was wirkungsvoll und vernünftig ist, etwa bei ihren Hygienekonzepten.

Wo es betriebliche Vereinbarungen zur Transformation gibt, da sollte sich der Staat raushalten. Der Staat darf nicht immer mehr regeln und dann die Einhaltung der Regeln flächendeckend kontrollieren wollen. Das ist zu aufwendig und schafft noch mehr Bürokratie.

Führt die Energiekrise zu einem höheren Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren und überhaupt bei der Energiewende?
Hoffentlich! Nötig ist es. Bisher ist in unserem Land viel zu wenig grüner Strom verfügbar. Der Bundeskanzler möchte nun nach dem Vorbild des zügigen Baus der schwimmenden LNG-Plattformen ein Planungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg bringen. Ich bin gespannt.

Oder skeptisch?
Ich befürchte, dass als Reaktion auch ein solches Gesetz erstmal beklagt wird. Das Planungsrecht ist ein massiver Bremsklotz für eine schnelle Dekarbonisierung. Wir wissen seit Jahren, dass wir mehr Erneuerbare brauchen und eine andere Infrastruktur für die Energiewende. Trotzdem passiert viel zu wenig.

Die Politik muss dringend Investitionen in den Ausbau erneuerbarer Energien und in die notwendigen Veränderungsprozesse in der Industrie stärken, zum Beispiel für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft.

Der Wille zur Geschwindigkeit ist da: Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann möchte die Genehmigungszeit für Windräder von sieben auf vier Jahre reduzieren.
Wir müssen noch deutlich schneller werden. Bei der Ambition, die wir haben und brauchen, reicht eine Halbierung der Planungs- und Genehmigungszeiten bei Weitem nicht aus.

Und es gibt zu viele unsinnige Vorgaben in Deutschland: Wenn eine baufällige Autobahnbrücke durch eine neue nach aktuellem Stand der Technik ersetzt werden soll, dann braucht man in der Regel eine komplett neue Umweltverträglichkeitsprüfung. Dabei unterscheidet sich die neue von der alten Brücke kaum.

Zusammen mit Michael Vassiliadis (IG BCE) und Veronika Grimm (Sachverständigenrat) leitete Siegfried Russwurm die Gaspreiskommission.
Zusammen mit Michael Vassiliadis (IG BCE) und Veronika Grimm (Sachverständigenrat) leitete Siegfried Russwurm die Gaspreiskommission.

© Foto: Imago/Kira Hofmann

Wer soll den Unsinn in einem föderalen System mit vielen Beteiligten auf verschiedenen Ebenen abschaffen?
Im Umweltrecht ist man schnell auf fünf Ebenen unterwegs. Ich wohne in Bayern, für mich sind die EU zuständig und der Bund, der Freistaat Bayern, mein Regierungsbezirk und schließlich mein Landratsamt. Den gordischen Knoten durchschlagen wir nur mit einem Commitment der Politik. Problem verstanden, das reicht nicht. Es muss gelöst werden.

Vielleicht muss einfach nur der Amtsschimmel auf Trab kommen, die Behörden besser zusammenarbeiten und mit digitalen Tools schneller werden?
Von mir gibt es kein Beamtenbashing, aber die Erwartung an zeitgemäße Digitalausstattung der Behörden und effizienteren Föderalismus, zum Beispiel im Artenschutz. Wenn es in der Nähe eines Neubaus Uhus oder Sperber gibt, warum braucht es dann in Bayern andere Prüfverfahren und Gesetze als in Baden-Württemberg oder Sachsen?

400.000
Arbeitskräfte verlassen jedes Jahr den Arbeitsmarkt

Auch in Verwaltungen und Behörden fehlt zunehmend Personal, das könnte die Situation noch verschärfen.
Nicht nur in Verwaltungen und Behörden. Genau deshalb brauchen wir ein modernes Einwanderungsrecht. Demographiebedingt verlieren wir jährlich rund 400.000 Arbeitskräfte.

Wir müssen attraktiver im Ausland werden, angefangen beim Direktkontakt vor Ort. Unsere Botschaften müssen umdenken und die Visaerteilung nicht als Eintrittsbarriere sehen, sondern sich als Anwerbeagentur für Deutschland verstehen.

Womöglich braucht die Industrie gar nicht so viele Arbeitskräfte, wenn es aufgrund der Energiepreise eine „schleichende Deindustrialisierung“ gibt, wie Sie befürchten.
Wenn Arbeitsplätze und Steueraufkommen der Industrie wegfallen und Sozialabgaben gutverdienender Beschäftigter, dann hat unser Land ein massives Problem. Heute finanziert der Exporterfolg viel von dem Wohlstand und der sozialen Sicherheit in unserem Land. Wir sind kein klassisches Tourismus- und Dienstleistungsland. Wir stehen noch am Anfang, die eigene Rohstoffwirtschaft wieder zu stärken. Es hängt am Erfolg der Industrie auf den Weltmärkten.

Womöglich ist die Krise gar nicht so schlimm und die Rezession im Sommer vorbei. Auch die Inflation scheint sich langsam abzuschwächen.
Energie wird teurer bleiben als in der Vergangenheit. Gas kostet derzeit fünfmal so viel wie in den USA. Unternehmen müssen kalkulieren, ob alle Aktivitäten hier im Land trotzdem weiter funktionieren. Die Gas- und Strompreisbremse gibt Planungssicherheit und Orientierung für die kommenden Monate, alle Preisnachteile kann sie aber nicht ausgleichen. Wenn Industrieproduktion aus Deutschland abwandert, hat das weitere Folgen, etwa für unseren Maschinen- und Anlagenbau.

Selbst heimatverbundene Familienunternehmen denken nach einer BDI-Umfrage aufgrund der Energiepreise über eine Verlagerung nach. Sind das Einzelfälle oder wird das ein Trend?
Rund ein Fünftel der Unternehmen hat angegeben, sich in konkreten Planungen für einen ausländischen Standort zu befinden. Es geht zumeist um die nächste große Investition.

Eine staatliche Anschubfinanzierung für wichtige Zukunftsinvestitionen ist sinnvoll.

Siegfried Russwurm

Gleichzeitig gibt es aber neue Wertschöpfung etwa Batteriezellenfabriken und Halbleiterwerke in Deutschland. Zumeist angeschoben mit öffentlichen Mitteln.
Eine staatliche Anschubfinanzierung für wichtige Zukunftsinvestitionen ist im internationalen Wettbewerb sinnvoll. Man sollte aber aufpassen, dass durch die Fördermittel etwas entsteht, das dauerhaft eigenständig existieren kann.

Die USA fördern mit dem „Inflation Reduction Act“ massiv ihre Industrie und Indonesien verbietet die Ausfuhr von Nickel, um die Weiterverarbeitung im eigenen Land zu erzwingen. Der Protektionismus zieht Kreise.
Der „Inflation Reduction Act“ besorgt die deutsche Industrie. Das Gesetz droht, europäische und andere ausländische Unternehmen zu benachteiligen. So geht man mit Freunden nicht um. Es ist aber ein Appell an Europa, sich industriepolitisch besser aufzustellen.

Das Vorgehen der Indonesier und übrigens auch anderer rohstoffreicher Länder finde ich nachvollziehbar. Sie wollen nicht mehr nur Rohstoffe exportieren, sondern auch weitere Wertschöpfungsstufen im Land. Das eröffnet Chancen für unsere Maschinen- und Anlagenbauer.

Allein für die Umstellung der deutschen Stahl-Hütten von Koks auf grünen Wasserstoff werden viele Milliarden Euro benötigt.
Allein für die Umstellung der deutschen Stahl-Hütten von Koks auf grünen Wasserstoff werden viele Milliarden Euro benötigt.

© Foto: Imago/Jochen Tack

Die Transformation funktioniert auch bei uns nicht ohne den Staat und den Steuerzahler, allein für klimaneutralen Stahl werden Milliarden gebraucht.
Für den Umstieg braucht es auch öffentliche Hilfen, aber zentral sind private Investitionen und die müssen sich lohnen. Erforderlich ist eine Doppelstrategie: erstens Energiekrise bewältigen, zweitens Investitionen in den Klimaschutz voranbringen. Förderung macht Sinn, um bei vielversprechenden technologischen Entwicklungen vorn dabei zu sein.

Und sind wir vorn dran?
Ja, bei der Dekarbonisierung der Industrie, weil viele Technologien aus Deutschland stammen. Wir wollen im Klimaschutz Vorbild sein für den Rest der Welt. Deshalb müssen wir Mittel und Wege finden, wie wir das frühzeitige Umsteigen in die Klimaneutralität wirtschaftlich erfolgreich hinkriegen.

40 Prozent der Unternehmen reduzieren in der Krise ihre Investitionen. Wie kann da die Transformation gelingen?
Wenn die Unsicherheit groß ist, dann scheuen Firmen Ausgaben. Zu wenig investieren, ist eines der größten Wachstumsrisiken. Deutschland hat ein Standortproblem, das sich nicht allein durch den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft überwinden lässt. Will die Ampel eine echte Fortschrittskoalition sein, muss sie zügig Reformen einleiten, etwa in der Steuerpolitik.

Im Wirtschaftsministerium verstehen sich manche eher als Wirtschaftsüberwacher und weniger als Wirtschaftsförderer.

Siegfried Russwurm

Das Bündnis „Zukunft der Industrie“, eine Initiative von IG Metall und BDI, wirbt seit vielen Jahren unter anderem für mehr Forschungsförderung zur Stärkung der Innovationskraft. Wird die Bedeutung der Industrie überall erkannt?
Da ergibt sich ein durchwachsenes Bild. Im Kanzleramt wird das verstanden. In den Ministerien ist das unterschiedlich, auch im Wirtschaftsministerium. Hier treffe ich gleich unterhalb des Ministers auf manche, die sich eher als Wirtschaftsüberwacher und weniger als Wirtschaftsförderer verstehen. Dabei ist die Ausgangslage doch völlig klar: Das Exportland Deutschland und seine Unternehmen müssen um Kundinnen und Kunden auf dem Weltmarkt werben.

Die Kunden sind manchmal Despoten.
Deshalb gibt es rote Linien. Der Fall Russland zeigt, dass Unternehmen gegebenenfalls klare Konsequenzen ziehen und auf Geschäft verzichten.

Die Bundesregierung arbeitet gerade an einer neuer Chinastrategie, unter anderem wird eine Meldepflicht für Investitionen in China erwogen. Sind wir zu abhängig?
Die Antwort auf wirtschaftliche Abhängigkeit ist Resilienz. Ganz viele Unternehmen haben inzwischen dafür gesorgt, dass sie in ihren eigenen Lieferketten nicht mehr auf China angewiesen sind, selbst nicht von eigenen Werken dort. Aber nicht jede Rohstoffabhängigkeit lässt sich über Nacht überwinden. Diversifizierung ist der Schlüssel, hat aber auch ein Preisschild.

Wird denn überhaupt daran gearbeitet?
Ja, um auf der Beschaffungsseite unabhängiger von China zu werden, laufen weltweit Projekte. Was die Absatzseite betrifft: China ist ein riesiger Markt. Wir haben in Deutschland viele Arbeitsplätze, die es ohne Geschäft in China nicht gäbe. Gleichzeitig arbeitet die deutsche Industrie intensiv daran, in anderen asiatischen Ländern stärker Fuß zu fassen.

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