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Die Komponistin Unsuk Chin

© Prista Ketterer

Folge 178 „Wochniks Wochenende“: Leidunterdückung ist Zensur

Die in Berlin lebende Komponistin Unsuk Chin ist eine der interessantesten Stimmen der Neuen Musik. Vielleicht auch, weil sie mit den Tönen mehr will, als nur zu tönen. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Thomas Wochnik


Noch heute herrscht in der Kunst- und Musikwelt das Dogma, selbst die schwersten, virtuosesten Kunststücke so darzubieten, dass sie leicht erscheinen. Die Komponistin Unsuk Chin verfolgt genau das gegenteilige Ziel: Das stunden- und jahrelange Üben, der Perfektionszwang und die Konkurrenz in der Musikwelt, das ganze entbehrungsreiche Musikerleben wird in den Aufführungen ihrer Partituren offenbar und verleiht ihnen eine auch politische Tiefe: Kunst ist Arbeit, die zu verstecken, eine unzeitgemäße Botschaft wäre.

Darum enthalten viele ihrer Werke Passagen am Rande der Spielbarkeit, fordern Musiker:innen heraus, bis sie sichtbar leiden – auch auf der Bühne. In diesem Sinne: Kunst, sagte sie mir kurz vor dem diesjährigen Musikfest, bedeute nichts anderes, als an der Welt zu leiden. Pierre Boulez habe zwar einmal gesagt, Leiden allein reiche nicht. Ohne Leiden würde sie sich aber nicht als Komponistin, sondern als bloße Verwalterin von Tönen verstehen.

Nun führt Matthias Pintscher am Pult des Boulez Ensembles Samstagabend um 19 Uhr, man möchte fast „schon wieder“ sagen, ihr „Gougalōn“ (die althochdeutsche Wurzel des Gaukelns) auf: sechs „Szenen aus einem Straßentheater“, in denen sie Erinnerungen an eine Gauklertruppe aus dem Seoul der Sechzigerjahre verarbeitet, die sie als Kind erlebt hat.

Die Gaukler hätten mit einfachsten Mitteln und amateurhaftem Spiel tiefste Emotionen im Publikum ausgelöst. Auf einen Satz, der allein dem Öffnen des Vorhangs gewidmet ist, folgt das niederschmetternde Lamento eines kahlen Sängers, dann ein menschliches Orakel mit hölzern klapprigen falschen Zähnen, die das Schlagwerk bis in die Zahnzwischenräume inszeniert. Auf das leichtfüßige Intermezzo der sich verselbständigenden Flaschen und Büchsen folgt der Tanz im Teufelskreis mit dichten Verheißungen in den Streichern.

Das Finale bildet eine sich ins Halsbrecherische steigernde Jagd (hat jemand Fuge gesagt?) über alle Oktaven von Klaviertastatur und Kontrabass-Griffbrett, die den Solisten zweifellos nicht leicht von der Hand gehen wird – erweiterte, für jedes Stück eigene Spieltechniken gehören selbstredend dazu, wie der Chin-typische spektakuläre Klangfarbenreichtum und eine ganz ordentliche Portion Humor, wie man ihn gerade in der Neuen Musik jenseits von Ligeti und Kagel nur seltenst antrifft. 2009 bis 2011 hat sie daran gearbeitet, eingespielt wurde es 2013 von den New Yorker Philharmonikern.

Menschen aus bequemen Verhältnissen, die (trotzdem) Kunst machten, seien ihr ein Rätsel, sagt sie. Reibung sei die wichtigste Ingredienz ihrer Arbeit – in Gougalōn etwa die an den eigenen Wurzeln, wer kennt die nicht? Matthias Pintscher stellt Chins Straßentheatermusik neben die „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“ Arnold Schönbergs und die geometrischen Polyrhythmen aus Ligetis Klavierkonzert (mit Julia Hamos am Flügel). Mit Mozarts Serenade c-Moll, „Nachtmusique“ als einer Art Dämmerung oder Leinwand für all das darauffolgende Licht eröffnet er den Samstagabend im Pierre Boulez Saal.

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