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Tetiana Kostorna, 40, ist Marketingchefin der Nationalphilharmonie in der westukrainischen Stadt Lwiw, wo sie mit ihren beiden Söhnen lebt.

© privat | Bearbeitung: Tagesspiegel

Die unsichtbaren Wunden des Krieges: „Es ist schrecklich, einen geliebten Menschen an seinen Knochen zu identifizieren“

20 Jahre lang war Friedrich ein Freund, dann Tetianas Partner. Eines Tages verschwindet der Ukrainer, der 2014 gegen Russland kämpfte. Sie sagt: Er starb nicht im Krieg. Aber am Krieg.

Von Tetiana Kostorna

Vor einem Jahr weitete Russland seine Invasion in die Ukraine auf das gesamte Land aus. Das Leben der Menschen dort hat sich seit Februar 2022 radikal verändert. Kaum jemand, der nicht von persönlichen Verlusten erzählen kann, vom Sterben und Fliehen, vom Kämpfen und Überleben. Kurz nach Beginn des Überfalls bat der Tagesspiegel Ukrainerinnen und Ukrainer, für das Multimedia-Projekt „Ein Tag im Krieg“ in Echtzeit aus ihrem neuen Alltag zu berichten. Ein Jahr später haben wir sie wieder erreicht. Tetiana Kostorna, 40, ist Marketingchefin der Nationalphilharmonie in der westukrainischen Stadt Lwiw, wo sie mit ihren beiden Söhnen lebt. Hier ist ihr Bericht.


„Für Friedrich blieb der Krieg immer der Schmerz, über den er nicht reden konnte“

Der Tag, an dem Friedrich verschwand, war der 18. November 2021. Die Polizei in Lwiw fand weder eine Leiche noch sonst eine Spur. Wir, seine Freunde, suchten ihn vergebens. Das ist die Geschichte, die ich vom Krieg erzählen will.

Wir lernten uns vor mehr als 20 Jahren kennen. Friedrich war charismatisch und intelligent, er hatte viele Freunde. Sein Name ist ungewöhnlich für unsere Region, weshalb er den Leuten leicht im Gedächtnis blieb. Er hatte den Kopf voller genialer Ideen. Ursprünglich kam er aus Uschhorod in Transkarpatien. Als er später Reiseführer in Lwiw und den Karpaten wurde, entwarf er seine Touren mit der Liebe und Fantasie eines Autors.

Friedrich auf einer Aufnahme von 2020. Der passionierte Reiseführer wurde 39 Jahre alt.
Friedrich auf einer Aufnahme von 2020. Der passionierte Reiseführer wurde 39 Jahre alt.

© privat

Vor allem war Friedrich ein glühender Patriot. 2014 war er einer der Ersten, die auf den Maidan gingen. Damals, während der ersten russischen Invasion, meldete er sich früh bei den ukrainischen Streitkräften.

Ich weiß nicht, wo genau Friedrich gekämpft hat. Er war an der Front, also muss er im Donbass gewesen sein. Es gab Situationen, so viel verriet er mir später, bei denen es an ein Wunder grenzte, dass er überlebte.

2015 kehrte Friedrich nach Lwiw zurück. Wenig später wurden wir ein Paar und zogen zusammen. Aber wirklich zurück ins Leben fand er nie. Viele Soldaten betrachten es als Tabu, mit Zivilisten über ihre Erfahrungen zu sprechen. Wie sollten wir auch nur annähernd verstehen, was sie im Kampf erlebt haben? Auch für Friedrich blieb der Krieg immer der Schmerz, über den er nicht reden konnte.

In der Armee hatte er Traumata erlitten, physische wie psychische. Nach seiner Rückkehr verlor er sein Tourismusunternehmen, das er so geliebt hatte. Er begann zwar eine neue Arbeit als Programmierer, aber das war nicht das Gleiche. Alles zusammen führte zu einer schweren Depression, die irgendwann auch unsere Beziehung belastete. Im September 2021, zwei Monate vor Friedrichs Verschwinden, entschieden wir uns zur Trennung – auch weil er mich schützen wollte. Wir versprachen einander, Freunde zu bleiben.

Friedrichs Leiche wurde im Oktober 2022 in einem Wald bei Lwiw gefunden. Die Polizei rief mich an und bat mich, zur Identifizierung zu kommen. Ich kann schwer in Worte fassen, wie schrecklich es ist, die Knochen und Habseligkeiten eines Menschen zu identifizieren, den man geliebt hat.

Für einen gewaltsamen Tod fanden die Experten keinerlei Anzeichen. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob seine Erschöpfung schlicht so stark war, dass er zusammengebrochen ist, oder ob es Suizid war.

Friedrich wurde 39. Er ist nicht im Krieg gestorben – aber am Krieg.

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