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Vor einem Jahr zerstörte eine gewaltige Explosion Beiruts Hafen und umliegende Wohngebiete.

© AFP

Ein Jahr nach der Katastrophe im Libanon: „Das ist kein richtiges Land mehr, das ist eine Parodie“

Steigende Lebensmittelpreise, kein Strom und Coronavirus: Vier Bewohner:innen Beiruts erzählen, wie sich die Situation seit einem Jahr verschlechtert.

Nach der verheerenden Explosion in Beirut am 4. August 2020 haben wir mit Augenzeug*innen in Beirut gesprochen. Hier erzählen vier, was sich im vergangenen Jahr für sie verändert hat, was der Jahrestag für sie bedeutet und was sie von der Zukunft erwarten.

Saleem Zein, 25, Mitarbeiter einer NGO in Beirut

"Das letzte Jahr war hart. Es fühlt sich nicht so an als sei ein Jahr vergangen seit der Explosion. Alles wird konstant immer schlimmer und schlimmer und es gibt nicht genug Zeit zu verarbeiten, was passiert. An diesem Punkt ist mir alles egal, ich bin verbittert und pessimistisch geworden und habe die Hoffnung verloren. Ich habe keine Motivation mehr, irgendetwas zu tun, weil es eh keinen Sinn hat.

Es gibt keine Art von Belohnung und selbst wenn wir uns etwas Gutes tun und zum Beispiel Urlaub machen, dann ist das mit Schuldgefühlen verbunden. Weil Menschen buchstäblich sterben und zwar jeden Tag. Es fühlt sich so an, als sitzen wir fest an diesem Ort, wo sich eine Pause – selbst wenn man es sich leisten kann – nicht wie eine Pause anfühlt. Meine Perspektive und meine Einstellung sind im vergangenen Jahr ziemlich miserabel geworden.

Mir ist bewusst, dass es ein Nebeneffekt davon ist, hier zu leben. Jeder ist innerlich tot. Ich zwinge mich selbst dazu, an Orte zu gehen nur um mich besser zu fühlen, aber es bringt nicht wirklich etwas. Die ganze Situation hier in Beirut ist ein einziges Chaos: Es gibt keinen Strom, die Anbieter der Stromgeneratoren ziehen ihren eigenen Nutzen aus der Situation und die meisten Menschen sind überarbeitet oder pleite.

Viele Menschen haben kein Wasser und verbringen den Tag damit, Elektrizität zu suchen, um zu arbeiten oder in einem klimatisierten Raum zu sitzen, weil es zu heiß ist. Ich selbst wechsle den gesamten Tag von Ort zu Ort und versuche die Zeit herumzukriegen weil es zuhause keinen Strom gibt. Es gibt keine Chance, an dem gleichen Ort mal zur Ruhe zu kommen, nicht einmal an deinen freien Tag.

Das ist furchtbar. Es ist das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Ich habe viel Wut auf diesen Ort und ich weiß nicht, was ich von der Zukunft erwarten soll."

Simona Baloghová, 29, slowakische Masterstudentin, lebt mittlerweile in Brüssel

"Ich lebe mittlerweile in Brüssel, aber bin seit der Explosion mehrere Male zurück nach Beirut gekommen. Ich wäre wohl auch unabhängig von der Krise aus Beirut weggezogen, aber die Explosion und die Wirtschaftskrise haben meine Entscheidung verstärkt.

[Lesen Sie hier die Berichte der Augenzeugen und Augenzeuginnen aus Beirut nach der Explosion am 4. August 2020.]

Als die Inflation Ende 2018 begann, wurde das Leben hier sehr viel schwieriger. Ich wusste, dass ich hier keine Perspektive habe, weil die Situation immer schlimmer werden würde. Jeder Besuch seither war anders - wegen der Corona-Situation und der Wirtschaftskrise. Alles ist so viel teurer geworden, wenn auch nicht für mich, weil ich ausländische Währung mitbringe. Aber für alle, die in libanesischen Dollar bezahlen, sind die Preise extrem gestiegen.

Ich kenne viele Menschen, die das Land mittlerweile verlassen haben oder darüber nachzudenken zu emigrieren. Die meisten werden immer unglücklicher und depressiver.

Die Strom-Krise ist sehr ernst: Es gibt praktisch keine Elektrizität der Regierung und wir nutzen nur noch Generatoren, die etwa 15-mal so teuer sind wie der Strom, den es früher gab. Außerdem versorgen die Generatoren einen nicht den gesamten Tag mit Strom, das heißt es ist sehr heiß und es ist schwierig zu arbeiten. Ich würde fast sagen, dass die Explosion zweitrangig wurde, weil die Menschen so damit beschäftigt sind, Geld für ihr Essen oder ihre Generatoren aufzutreiben.

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Über den Sommer sind viele Libanesen, die normalerweise im Ausland leben, hier. Die schickeren Bars, Restaurants und Pubs sind völlig ausgebucht, weil es für Leute, die ihr Gehalt in US-Dollar oder anderen ausländischen Währungen erhalten, sehr günstig ist. Mittlerweile haben diese Restaurants sogar einen Mindestwert, den man bezahlen muss, um einen Tisch reservieren zu können.

Es ist ein seltsames Paradox: Die Leute haben kein Wasser und keinen Strom und müssen sich durchschlagen. Gleichzeitig sind die Restaurants ausgebucht. Das zeigt auch, wie die Spanne zwischen Arm und Reich immer größer wird."

Angehörige von Menschen, die bei der Explosion ums Leben gekommen sind, sitzen während einer Demonstration vor dem Justizpalast und halten Porträts der Opfer in den Händen.
Angehörige von Menschen, die bei der Explosion ums Leben gekommen sind, sitzen während einer Demonstration vor dem Justizpalast und halten Porträts der Opfer in den Händen.

© Bilal Hussein/AP/dpa

David Oryan, 29, Regisseur und Drehbuchautor
"Ein Jahr ist vergangen und nichts hat sich zum Besseren geändert. Die Explosion sorgte für einen Dominoeffekt, ein Großteil meiner engen Freunde hat den Libanon verlassen oder sich bereits um Visum für ein anderes Land bemüht. Da Corona auch hier nach wie vor eine große Rolle spielt, sind noch nicht alle meiner Freunde im Exil, aber fast 95 Prozent haben zumindest den Entschluss gefasst, hier nicht mehr leben zu wollen.

Wieso auch immer, bin ich noch hier. Auf der einen Seite habe ich die Hoffnung nicht ganz aufgegeben, hier irgendwann in Würde leben zu können, auf der anderen Seite bin ich auch realistisch: Warlords kontrollieren den Libanon, die Ressourcen, das ganze Land. Die aktuelle politische Situation lässt es einfach nicht zu, hoffnungsvoll zu denken.

Meiner Meinung nach wird sich das in den nächsten 50 bis 70 Jahren auch nicht ändern. Ich versuche persönlich nur noch mit Produktionsfirmen und Filmunternehmen zu arbeiten, die ihren Sitz außerhalb des Libanons haben. Hier ist einfach nichts mehr. Und die, die noch hier sind, sind demotiviert, kämpfen darum, die Tage zu überstehen.

Uns wurde nichts gelassen, um zu leben. Wir haben keine Medizin. Vergangene Woche habe ich mich drei Tage darum bemüht, meine Asthma-Medizin zu bekommen. Mittlerweile gibt es überall im Land Dealer die Medizin aus dem Ausland verticken und den Schwarzmarkt im Land kontrollieren. Wir haben kein Benzin, wir haben kein Strom, wir haben kein Wasser.

Das ist kein richtiges Land mehr, das ist eine Parodie, eine Freakshow. Alle sagen immer, "man darf die Hoffnung nicht aufgeben". Das sagt sich so einfach, wenn man mit Dämonen zusammenlebt, die das eigene Land regieren. Ich will nur noch weg, ich will hier nicht sterben, mein Leben ist mir mehr wert als in diesem Chaos umzukommen."

Anna Fleischer, 34, Leiterin des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung

"Ein schwieriger Tag und eine schwierige Woche kommen auf uns zu. Der Jahrestag ist eine schmerzvolle Angelegenheit. Mein persönliches Gefühl in diesem Jahr ist Ungerechtigkeit. Seit der Katastrophe kommt die Aufklärung nicht voran, es fehlen immer noch viele Antworten.

Wenn von Katastrophe die Rede ist, denkt man an eine Tsunami-Welle oder eine andere Naturkatastrophe, aber im Libanon handelt es sich um eine Katastrophe, die durch das Handeln von Menschen verschuldet wurde. Es belastet, dass wir immer noch nicht wissen, was genau am 4. August passiert ist. Jegliche Verantwortlichkeit und Rechenschaft fehlen, das ist zermürbend.

Vor allem Menschen, die Angehörige oder ihr gesamtes Hab und Gut verloren haben, empfinden ein großes Ungerechtigkeitsgefühl. Gleichzeitig fehlen aufgrund der Wirtschaftskrise viele Dinge, die früher selbstverständlich waren, zum Beispiel Medikamente, Benzin oder bestimmte Lebensmittel.

Das verursacht eine Knappheit, die ich vorher so nicht kannte. Die Corona-Pandemie ist zwar noch da, aber absurderweise ist sie ein Nebenschauplatz geworden. Hier im Libanon ist sie eine Krise von vielen, die die Menschen belastet.

Auch die Arbeit hier vor Ort ist aufgrund der multiplen Krisen schwieriger geworden, aber es gibt eine aktive Zivilgesellschaft, die Veränderungen fordert. Ich denke es ist wichtig, weiterhin zu fordern, dass aufgeklärt wird, was passiert ist. Und es ist wichtig, zu fordern, dass die Korruption bekämpft wird. Alle Forderungen, die bei den Massenprotesten im Oktober 2019 formuliert wurden, bestehen weiterhin. Sie wurden nicht gelöst, deshalb ist es wichtig, sie weiterhin auf die Agenda zu setzen.

Viele Proteste und Aktionen mussten wegen des Lockdowns zwar in den digitalen Raum verlagert werden, aber immer wieder gibt es kleine Lichtblicke: Zum Beispiel die Wahl unabhängiger Kandidaten bei den Gewerkschaften. Das ist einer der Gründe, warum es für mich wichtig ist hier zu bleiben und die Zivilgesellschaft zu unterstützen."

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