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Eine Tafel des Projekts „Orte des Erinnerns“ im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg.

© Thilo Rückeis

Erinnerung an NS-Verbrechen in Berlin: „Der hat ja in meiner Straße gewohnt!“

Die Schöneberger Ausstellungen „Orte des Erinnerns“ und „Wir waren Nachbarn“ erinnern an von den Nazis verfolgte Juden. Manche Besucher hinterfragen hier ihre antisemitischen Klischees.

Von Caroline Fetscher

„Ach, die armen Tiere! Wo kamen die denn hin?“ Solche Fragen hört Cornelia Essner, wenn sie im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg Leute durch die Straßen führt. Dort sind an Laternenmasten 80 Schilder angebracht, die 80 infame Texte zeigen. Einer lautet: „Juden dürfen keine Haustiere mehr halten. 15. 5. 1942“.

Die Schilder bilden die Ausstellung „Orte des Erinnerns“, 1993 in Schöneberg installiert, wo zu Beginn des „Dritten Reichs“ 16.000 der etwa 160.000 Berliner jüdischer Herkunft lebten. Cornelia Essner ist eine der Expertinnen, die Interessierten einmal im Monat die Ausstellung zeigt.

Die Frage nach dem Schicksal der Tiere kann sie beantworten: „Das Jüdische Krankenhaus in Berlin richtete für sie eine Nebenstelle ein. Einen Schlachthof für Haustiere.“ Dort endeten die Labradore oder Siamkatzen, Kanarienvögel oder Wellensittiche.

Wörtlich lautete die Verordnung: „Juden, die zum Tragen des Kennzeichens verpflichtet sind“, sei „mit sofortiger Wirkung das Halten von Haustieren (Hunden, Katzen, Vögeln) verboten.“ Dazu wurde gewarnt: „Eine anderweitige Unterbringung der Haustiere, insbesondere Pflegestellen bei Dritten, ist unzulässig.“ Und: „Zuwiderhandlungen haben staatspolizeiliche Maßnahmen zur Folge.“

Empathie für Tiere öffnet auch die Tore zur Empathie mit den Menschen, denen sie weggenommen wurden.

Cornelia Essner, Historikerin

Essner ist nicht schockiert von der fast pietätlos wirkenden Frage nach dem Los der Haustiere. „Empathie für Tiere öffnet auch die Tore zur Empathie mit den Menschen, denen sie weggenommen wurden.“ Essner, Historikerin, Jahrgang 1954, dunkles, gerade geschnittenes Haar, habilitierte über die „Nürnberger Rassengesetze“ bei Reinhard Rürup, dem langjährigen Leiter der Berliner Gedenkstätte Topographie des Terrors.

Seit einem Jahr, seit der Rente, gehört sie zum Team der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ zu jüdischen Biografien des Rathauses Schöneberg. 2005 wurde sie eröffnet. Da Essner Expertin auf dem Gebiet der antisemitischen Bürokratie ist, hat sie die Führungen durchs Viertel ausführlicher gemacht, seither steigt die Nachfrage nach den Rundgängen.

Das Interesse daran „wächst in Zeiten des zunehmenden Antisemitismus“, sagt sie. Mitte November wurden Einschusslöcher am ehemaligen Rabbinerhaus der Alten Synagoge in Essen entdeckt.

Beim Anblick der Schilder sind fast alle Leute beklommen und erschüttert.

Cornelia Essner

Wenige Tage zuvor führt Essner wieder eine Gruppe durch die Straßen, aus denen tausende Menschen in den Tod transportiert wurden, vorbei an den Schildern. Auf jedem sind – lakonisch, unkommentiert, datiert – Verordnungen und Gesetze wiedergegeben, die deutsche Beamte zwischen 1933 und 1945 zur Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung erfunden hatten. Auf der Rückseite ist jeweils eine Abbildung zu sehen, zur Verordnung über die Haustiere eine Katze.

„Beim Anblick der Schilder sind fast alle Leute beklommen und erschüttert“, sagt Essner. Das „Berufsverbot für Musiker“ galt ab 1935, „Juden müssen ihre Rundfunkgeräte abliefern“ ab 1939, und: „Juden dürfen keine Zeitungen und Zeitschriften mehr kaufen“ vom Februar 1942 an. Juden durften keine Seife mehr kaufen, sie sollten keine Kinos, Konzerte, Schwimmbäder besuchen, sie mussten Fahrräder, Schreibmaschinen und Schallplatten abliefern.

Der Weg zur Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ führt in eine lichte Halle im Rathaus Schöneberg, die sich unerwartet hinter Behördenfluren auftut. Das bundesweit einmalige Projekt widmet sich der jüdischen Bevölkerung des Viertels mit Porträts einzelner Personen in Alben aus Texten und Fotografien. Der Eintritt ist frei.

„Unsere Besucher kommen aus aller Welt, aus Israel, Skandinavien, Amerika“, sagt Ausstellungsleiterin Simone Ladwig-Winters. Oft seien es Nachfahren der Ermordeten oder Überlebenden, oder Nachbarn, die Stolpersteine verlegen wollen. Zehn- bis zwölftausend Menschen im Jahr finden ihren Weg hierher.

Zur Bekämpfung des Antisemitismus, da ist sich die Leiterin mit ihren sieben Mitarbeitern einig, wird gerade jetzt das emotionale Begreifen, das Ergriffenwerden von einer konkreten Lebensgeschichte, „wichtiger denn je“.

Der Saal: mehr als dreißig Meter lang und fast zehn Meter hoch, überwölbt von einer kassettierten Glasdecke. Eine lange Reihe von Pulten auf der Mittelachse, flankiert von weiteren an den Saalseiten, auf jedem beleuchtet eine Tischlampe eine Biografie.

Hier kann man sich in Lebenswege vertiefen, 172 wurden erarbeitet, 125 liegen bebildert aus, mit Familienfotos, Dokumenten und Briefen. In Schöneberg wohnten Albert Einstein, Walter Benjamin und Kurt Tucholsky, die Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs, drei der Comedian Harmonists und der Jazz-Gitarrist Heinz Coco Schumann, der die Mörder in Auschwitz mit Liedern wie „La Paloma“ unterhalten musste.

Arischen und nichtarischen Kindern wird das Spielen miteinander untersagt.

1938 ergangenes Verbot, an das heute ein Schild in Schöneberg erinnert

Die Prominenten stehen Seite an Seite mit den vielen anderen, deren Namen kaum bekannt sind, Ärzte, Lehrerinnen, Anwälte, Künstler, Kaufleute, ganze Familien. Ladwig-Winters, Jahrgang 1955, promovierte über die Arisierung des Warenhauses Wertheim und hat ein Standardwerk über die 1800 verfolgten jüdischen Juristen in Berlin verfasst – mehr als die Hälfte aller Anwälte der Stadt. „Anwalt ohne Recht“ wurde 2022 von der Berliner Anwaltskammer neu aufgelegt. Das Ausgrenzen der Juristen verlief in Phasen, von terroristischen Übergriffen bis zum Berufsverbot 1938. Darauf folgten nur noch Deportation, Ermordung, Suizid oder Exil.

Wie sich die Schlinge der Entrechtung zuzog, das hat auch Cornelia Essner erforscht, als sie über die „Nürnberger Gesetze“ schrieb. Und doch ergeht es ihr hier kaum anders als den meisten Besuchern. Hier im Saal nähere sie sich den Leidenswegen der Opfer wie nie zuvor. Geschichten wie zum Beispiel die von Doris Kaplan machten deutlich, was eine Welt bedeutete, in der Kinder ab dem sechsten Lebensjahr den „Judenstern“ auf der Kleidung tragen mussten.

Doris Kaplan, 1931 in Brandenburg als Tochter einer Krankenschwester und eines Mediziners geboren, wurde von den jüdischen Eltern 1938 zu Freunden in die Luitpoldstraße in Berlin geschickt. Ihr Kind würde in der Großstadt sicherer sein, hofften sie. Im selben Jahr erging das Verbot, an das heute ein Schild an einem Spielplatz erinnert: „Arischen und nichtarischen Kindern wird das Spielen miteinander untersagt.“

Saal der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Berliner Rathaus Schöneberg.
Saal der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Berliner Rathaus Schöneberg.

© Kitty Kleist-Heinrich TSP / Kitty Kleist-Heinrich TSP

Jeden Sonntag schrieb das Mädchen einen Brief an die Eltern. In ihrer Schulklasse fehlten immer mehr Mitschüler, schreibt sie 1941 an die „liebe gute Mutti“, „die zwei nettesten Mädchen und außerdem zwei Jungen“. Der Vater stirbt während der Zwangsarbeit, das Kind durchwacht Bombennächte. „Gerade dieser Geschichte kann man sich emotional nicht entziehen“, sagt Cornelia Essner. „Hier kann die Singularität des Holocaust auch denen klar werden, die sie“ – wie es derzeit oft geschieht – „ in der postkolonialen Debatte relativieren wollen.“

Ab dem eiskalten Januar 1942 galt für Juden ein „Ablieferungszwang für Pelze und Wollsachen“. Doris hatte erfahren, dass ihre Mutter und sie deportiert werden sollten. „Ich kann mich nicht entschließen, den Schal abzugeben“, schrieb die Elfjährige, „in Polen ist es noch kälter, und ich friere jetzt schon oft“. Und weiter: „Ich ziehe mir keine Stiefel an, weil ich mir sage: Ich will mich abhärten für Polen.“ Doris Kaplan und ihre Mutter sind im Warschauer Ghetto verschollen.

Im ursprünglichen Sitzungssaal des 1914 fertiggestellten Schöneberger Rathaus inszenierten die Nationalsozialisten im Jahr 1937 ihre „Jahresausstellung des Frontkämpferbundes bildender Künstler“, vier Jahre später die Propagandaschau mit dem Titel „Raubstaat England“.

Manche Schülerinnen und Schüler sind sie kaum wegzukriegen von den Alben, wenn der Lehrer zum Aufbruch ruft.

Ausstellungsleiterin Simone Ladwig-Winters

Manche Schülerinnen und Schüler betreten den Saal unwillig, erzählt Simone Ladwig-Winters. „Och, nö, Museum.“ Dann würden sie gepackt von den Gesichtern und Berichten. „Manchmal sind sie kaum wegzukriegen von den Alben, wenn der Lehrer zum Aufbruch ruft.“

Auf dem Hof der nahen Löcknitz-Grundschule, da, wo auch an diesem Novembertag Kinder in der Pause toben, stand ab 1910 eine Synagoge, die Platz für fast 840 Menschen hatte. Die Pogromnacht überstand sie, da sie von Wohnhäusern umgeben war. Sie wurde 1956 abgerissen.

Auf einem Gedenkstein von 1963 liest man, dass der Bau „nach der Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger durch die Nationalsozialisten“ seine „Funktion“ verloren hatte. Jedes Jahr kommt die Abschlussklasse der Löcknitz-Schule in den Saal im Rathaus, und jedes Kind sucht aus den tausenden von Namen einen ehemaligen jüdischen Bewohner des Viertels heraus.

Dass die Namen überhaupt dokumentiert sind, ist Andreas Wilcke zu verdanken. Wilcke wurde in Rostock geboren, im selben Jahr wie Doris Kaplan, und kam nach dem Zweiten Weltkrieg nach Berlin, wo sein Vater in der Apotheke am Bayerischen Platz arbeitete. Der Sohn wurde Sozialdemokrat und war von 1963 bis 1989 mehrmals Bezirksverordneter.

Früher als andere wollte Wilcke die Erinnerung an die jüdische Bevölkerung von Berlin wecken. Als 1987 ein Ideenwettbewerb für ein Mahnmal ausgeschrieben wurde, wusste er, wo er suchen musste. Er beantragte den Zugang zu den Deportationsdaten in den Unterlagen der Oberfinanzdirektion. Die hatte Vermögenserklärungen aller jüdischen Haushalte eingeholt, jeder Silberleuchter, jeder Teppich, jedes Konto musste verzeichnet werden, dazu Namen, Daten, Adressen. 6223 Namen beförderte Wilcke aus den Akten ans Licht und übertrug sie von Hand auf mehr als 4000 Karteikarten. In endlos wirkenden Reihen sind sie an den Wänden im Saal zu sehen.

Extremismusforscher Ahmad Mansour.
Extremismusforscher Ahmad Mansour.

© Imago/Patrick Scheiber

Die Besucher verstehen: Das sind ja lauter einzelne Menschen!

Ahmad Mansour

Der Psychologe und Extremismusforscher Ahmad Mansour, Israeli palästinensischer Herkunft, erinnert sich staunend an seinen Besuch der Ausstellung mit einer Gruppe Migranten. „Sie hatten die üblichen antisemitischen Stereotype“, sagt er. „Juden würden in Deutschland keine Steuern zahlen, sich zu Opfern stilisieren, den Nahostkonflikt verantworten und so weiter.“

Aber in der Ausstellung hätten sie angefangen, ihre Vorstellungen in Frage zu stellen. Viele aus der Gruppe wohnten in Schöneberg. „Die Juden“, hätten viele erkannt, gibt es gar nicht. „Das sind ja lauter einzelne Menschen!“

Mansour hörte die Sätze, die auch Ladwig-Winters und Cornelia Essner so oft hören: „Der hat ja in meiner Straße gewohnt!“ „Das Mädchen ist auf dieselbe Schule gegangen wie ich!“ Seither, sagt Mansour, ist er überzeugt, dass jeder Berliner Bezirk, eigentlich jede Stadt, jeder Ort in Deutschland, solch eine Ausstellung bräuchte.

Bald werden keine Zeitzeugen mehr leben. In Räumen wie diesem können sie weitersprechen.

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