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Königsschloss: Die Blume Europas

Breslau? Wroclaw? Die Renovierung des ehemaligen preußischen Königsschlosses zeigt, wie souverän Polen mit der Vergangenheit umgeht

Schade, dass mein Großvater das nicht mehr erleben darf. Mein schlesischer Großvater, 1904 in Kattowitz geboren, der sich trotz seines polnischen Familiennamens als Deutscher fühlte, für Preußen schwärmte und nach dem Volksentscheid von 1922 – damals wurde Oberschlesien zwischen Deutschen und Polen geteilt – enttäuscht nach Berlin ging.

90 Jahre später vollzieht sich in der seit 1945 komplett polnischen Provinz Schlesien unter dem schützenden Dach der EU-Osterweiterung ein Wunder – und wir nachgeborenen Deutschen haben Schwierigkeiten, dessen Tragweite überhaupt wahrzunehmen. Es geht darum, anzuerkennen, dass die Tradition eines Ortes oder einer Landschaft sowohl die eigene wie die der anderen sein kann. Es geht nicht um Besitzansprüche. Sondern um Vergebung und Versöhnung.

Wunder manifestieren sich symbolisch, dieses hat sich materialisiert: in der schlesischen Provinzhauptstadt Breslau, seit 1945 Wroclaw. Am 19. April eröffnete dort das rundum renovierte preußische Königsschloss als städtisches Geschichtsmuseum. In der Dauerausstellung „1000 Jahre Breslau“ wird die Geschichte der viertgrößten Stadt Polens zum ersten Mal ohne Auslassungen präsentiert: von der Gründung einer Burg an der Oder Anfang des 10. Jahrhunderts bis zu den Katastrophen und raren Glücksmomenten des gerade beendeten Jahrhunderts. Besonderes Augenmerk liegt auf der Herrschaft der Habsburger und Hohenzollern über Schlesien – eine geschichtspolitische Sensation, die vom gewachsenen Selbstbewusstsein im neuen Polen zeugt. Bis zur Wende 1989 war es ein absolutes Tabu, die deutschen Anteile der Vergangenheit in den (so der offizielle Sprachgebrauch) „wiedergewonnenen Gebieten“ anzuerkennen.

Geschichte kennt keine Gerechtigkeit, wohl aber Bewegung und Gegenbewegung. In der Ausstellung wird nun sogar Friedrich der Große liebevoll gewürdigt. Ausgerechnet der Alte Fritz, der Schlesien in drei blutigen Kriegen von den Habsburgern eroberte, an der Teilung und Tilgung Polens beteiligt war und deshalb im kommunistischen Polen quasi als Vorläufer Hitlers galt. Museal gehätschelt werden auch all die anderen Könige, Generäle und Gelehrten, die zu preußischer Zeit mit der Geschichte Breslaus verbunden waren.

Um für die Darstellung Breslaus als Hohenzollernresidenz den angemessenen Rahmen zu schaffen, hat man nicht nur Fassaden renoviert, sondern auch den barocken Garten sowie sechs Staatsgemächer im Hauptgeschoss des Schlosses rekonstruiert: seidene Tapeten, Kamine, Spiegel, Flügeltüren, an den Wänden die Porträts Uniformierter. Zwei der Räume sind König Friedrich Wilhelm III. gewidmet, der eben dort, im „Gelben Wohnzimmer“, im März 1813 das Eiserne Kreuz gestiftet und den Aufruf „An mein Volk“ unterzeichnet hat: symbolischer Auftakt der Befreiungskriege gegen Napoleon. Preußens Glanz und Gloria.

Für viele Polen jedoch dürften sich mit dem von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Eisernen Kreuz noch immer ganz andere Assoziationen verbinden. Schließlich hat sich das antinapoleonische Freiheitssymbol später zu dem emblematischen Inbegriff deutscher Militärgläubigkeit gewandelt.

Es besteht also einiger Erklärungsbedarf in diesem Haus. Die Texte zu den Räumen und Objekten sowie der Audioguide sind denn auch konsequent dreisprachig: Polnisch, Deutsch, Englisch. Auch der 300-seitige Ausstellungsführer wird in den drei Sprachen angeboten. So etwas gibt es in keinem anderen Museum Polens, nicht einmal in Warschau. Klar, dass dieses Schloss vor dem Hintergrund der nicht immer leicht durchschaubaren innenpolitischen Stimmungslage in Polen auch Kritik erntet. Doch Rafal Dutkiewicz, seit 2002 Stadtpräsident, also Oberbürgermeister der 650 000-Einwohner- Stadt, bringt das neue Breslauer Selbstverständnis auf den Punkt: „Wir sind hier souverän, und gerade deshalb sind wir in der Lage, die komplizierte und komplexe Geschichte der Stadt anzuerkennen.“

Dass das Residenzschloss der preußischen Könige, nur wenige Gehminuten entfernt vom Ring mit dem Rathaus, nach über 10-jähriger Planungs- und Bauzeit innen und außen wieder strahlt, verdankt sich neben Dutkiewicz vor allem einem Mann: Maciej Lagiewski. Seit 1990 ist Lagiewski Direktor des Städtischen Museums Breslau, das eigentlich ein Verbund aus sechs Museen ist. Neben dem historischen Museum im Schloss gibt es ein archäologisches und ein militärhistorisches im alten Arsenal, die Medaillensammlung, den Jüdischen Friedhof und eine Kunstgalerie.

Man kann die historische Fallhöhe und das Risiko dieses wiedererstandenen Preußenschlosses erst ermessen, wenn man sich Lagiewskis Lebensgeschichte vor Augen führt. Lagiewski lebt bis heute in dem Haus, in dem er 1955 geboren wurde. Sein Vater, nach dem Krieg aus der Nähe von Posen zugewandert, sprach fließend Deutsch, weil er vor 1918 auf Reichsgebiet geboren worden war. Dennoch musste er während des Krieges als Zwangsarbeiter für Deutschland schuften, die beiden Stoffaufnäher „P“ (für Pole), die nun in einer Ausstellungsvitrine liegen, stammen von ihm und seiner Frau. Sein Sohn hat die deutsche Sprache erst auf dem Gymnasium und während des Studiums gelernt.

Lagiewski war, bevor er Museumsdirektor wurde, Jurastudent, polnischer Vizemeister über 100 und 200 Meter, akademischer Lehrer für Kunstgeschichte, Solidarnosc-Aktivist, der mit der Verhängung des Kriegsrechts 1981 seinen Job verlor. Und schließlich, während der bleiernen achtziger Jahre, leitete er in Breslau die erste Restaurierung eines jüdischen Friedhofs in Polen. Heute zählt der von ihm zum Museum erklärte Jüdische Friedhof an der Lohestraße mit dem Grab von Ferdinand Lassalle, dem Gründervater der SPD, zu den Hauptsehenswürdigkeiten Breslaus. Lagiewski hat 13 Bücher über die deutschen Juden von Breslau und ihre Grabstätten geschrieben, zweimal erhielt er für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz. Der höchste polnische Orden steht noch aus.

„Aus Zufall“ und „wie ein Hobby“, erzählt der temperamentvolle Museumsmann, sei seine Karriere entstanden: „Ein wunderbarer Lebenslauf, vom Grab zum Rathaus. Normalerweise ist es umgekehrt.“ Im Rathaus sitzt mit Stadtpräsident Dutkiewicz ein Verbündeter. Auch Dutkiewicz, Jahrgang 1959, spricht beschämend gut Deutsch, hat deutsche Freunde und verfügt über eine bewegte Solidarnosc-Vergangenheit. „Der Lagiewski und ich“, resümiert das Stadtoberhaupt, „sind vielleicht nicht so typisch. Bei mir kommt noch hinzu: Bis 1989 war es mir verboten, ins Ausland zu reisen. Die erste westliche Stadt, die ich gesehen habe und wo ich 1990 ein halbes Jahr gelebt habe, war Freiburg im Breisgau. Meine Frau und ich haben dort nur Gutes erlebt, es war wunderschön, alle waren freundlich. Meine Erfahrung mit Deutschland ist eine unheimlich gute.“

Sogar bei einem Treffen schlesischer Vertriebener ist Dutkiewicz damals gewesen: „Ich bin mit einer gewissen Angst dorthin gegangen, aber das war ein tolles Treffen. Die haben mich gefragt: Gibt es diese Schule noch, wie sieht jene Straße aus? Irgendwie sehr menschlich.“

Man sagt dem bürgerlich-liberalen Dutkiewicz weitergehende politische Ambitionen nach, doch im nächsten Jahr wird er noch einmal in Breslau kandidieren. Während seiner bisherigen Amtszeit wurden dort 125 000 neue Jobs geschaffen, die Stadt gilt als Boomtown und genießt mit ihren weit über 100 000 Studenten das Image einer jungen Metropole. Wer abends über den Ring spaziert, kann mit dem Blick auf deutsche Innenstadtszenerien schon wehmütig werden: junge Leute, alte Stadt. Bei uns ist es umgekehrt.

Dabei musste vieles, was Besucher in Breslaus Stadtzentrum heute als historisch bewundern, nach Kriegsende mühsam aus Trümmern rekonstruiert werden. 70 bis 80 Prozent der innerstädtischen Bausubstanz waren nach der Kapitulation der von Hitler zur Festung erklärten Stadt am 6. Mai 1945 zerstört. Unersetzliches wie die Maria-Magdalena-Kirche brannte in den Wochen danach bei verheerenden Großbränden aus. Die gewaltige Schneise, die die Wehrmacht für einen Flugplatz in den Stadtkörper brechen ließ, ist noch heute nicht völlig geschlossen.

Der 1967 in München geborene Historiker Gregor Thum hat in seinem Buch „Die fremde Stadt“ als erster minutiös beschrieben, wie schwer sich die in den Nachkriegsjahren in Breslau angesiedelten Polen – die keinesfalls, wie bislang angenommen, alle aus dem heute ukrainischen Lemberg kamen –, mit der völlig zerstörten deutschen Großstadt taten. Thum, dessen Buch auch in Polen erschienen ist, rekonstruiert aus Lebenserinnerungen polnischer Neu-Breslauer und Verwaltungsakten das Bild einer Stadt ohne Gedächtnis, einer Stadt mit vielen Schweigegeboten. Und das Psychogramm einer Bevölkerung, die jahrzehntelang zumindest mental auf gepackten Koffern saß.

In den Aufbaujahren ging es der polnischen Administration hauptsächlich um die Beseitigung deutscher Spuren. Straßennamen wurden getilgt, Friedhöfe verschwanden, ohne dass eine neue polnische Tradition bereits nachgewachsen wäre. Dutzende „deutsche“ Kunstwerke verfrachtete man in Warschauer oder Krakauer Museen. Museumsdirektor Lagiewski versucht derzeit mit Hilfe des Breslauer Ex-Stadtpräsidenten und jetzigen polnischen Kulturministers Bogdan Zdrojewski Werke wie Dürers Passionsaltar von 1522, seit April als Leihgabe des Warschauer Nationalmuseums im Breslauer Schloss, dauerhaft zurückzugewinnen. Restitution auf Polnisch.

Umso erstaunlicher fällt die Wiederaufbauleistung in Breslau aus. Die prächtigen Patrizierhäuser an Ring und Salzring sowie die Backsteingotik auf der Dom- und Sandinsel wurden schon in den fünfziger und sechziger Jahren rekonstruiert – auch wenn man damals so tat, als handelte es sich um rein polnische Kulturleistungen. Nicht immer haben es die polnischen Denkmalpfleger mit diesem Trick geschafft, Wertvolles zu erhalten. Gerade bei den explizit preußischen Baudenkmälern gab es herbe Verluste: Das großartige Adelspalais der Familie Hatzfeld, entworfen von Carl Gotthard Langhans – dem Baumeister des Brandenburger Tors –, wurde ebenso wenig wieder aufgebaut wie die einst prominent platzierte Kommandantur seines Sohnes.

Und auch dem Residenzschloss der Hohenzollern, dem Museumsschloss, wo seit vier Monaten wieder preußische Geschichte zelebriert wird, ist das Preußentum erst einmal ausgetrieben worden. Das gerade restaurierte Fragment entspricht im Äußeren, ungeachtet späterer Umbauten, dem barocken Adelspalais des Heinrich Gottfried von Spaetgen. Der Freiherr, dessen Erbtochter das Palais 1750 an Friedrich den Großen verkauft hat, war Kanzler des Breslauer Fürstbischofs: gewissermaßen reinrassiges altes Habsburg, für Polens Kommunisten längst nicht so anrüchig wie die verhassten Preußen. Die beiden damals noch ruinös erhaltenen Schlossflügel, 100 Jahre später nach Plänen von Friedrich August Stüler errichtet, hat man in den sechziger Jahren weitgehend abgerissen. Nur vom Stülerbau steht noch ein bescheidener Rest, den Maciej Lagiewski gern für sein Medaillenmuseum herrichten würde – wenn die Stadt etwas Geld zur Verfügung stellen könnte.

Dieses Schlossmuseum kommt nicht ohne privates Engagement aus. Davon kann der Kunsthändler Volker Wurster erzählen. Wurster betreibt mit seinem Geschäftspartner Achim Neuse die international renommierte Galerie Neuse in Bremen. Im Gespräch erinnert der Breslau-Fan ohne familiäre Wurzeln in Schlesien daran, dass sich nach Kriegsende die Einwohnerzahl seiner Heimatstadt Oldenburg durch den Zuzug Vertriebener (40 000 allein aus Schlesien) verdoppelt hat. 2006 konnte die Galerie Neuse den „Breslauer Schatz“, eine einmalige Sammlung Breslauer Gold- und Silberschmiedekunst, an das dortige Stadtmuseum verkaufen. Vorausgegangen war in Breslau eine bürgerschaftliche Spendenaktion, bei der selbst Kindergartengruppen ihr Erspartes opferten. Maciej Lagiewski konnte so schon in den ersten drei Wochen 600 000 Zloty in Empfang nehmen.

Prominente Stücke aus dem Schatz stehen nun im Schloss, dazu längerfristige Leihgaben wie Skulpturen, Gemälde und Möbel, die Wurster und befreundete deutsche Kunsthändler zur Verfügung gestellt haben. „Ich hoffe“, so Wurster, „dass die Öffnung von polnischer Seite auch von uns Deutschen endlich als Chance begriffen wird. Ich habe, weil ich so begeistert von Breslau bin, viele Freunde dorthin mitgenommen. Die wären nie von allein auf die Idee gekommen, nach Polen zu fahren. Aber keiner von ihnen ist mit Vorurteilen zurückgekommen.“

Breslaus Kultur versöhnt wieder, seit sie nicht mehr ideologisch trennen muss, was eigentlich nur als gewachsene Vielfalt denkbar ist. „Microcosm“ heißt Norman Davies’ Stadtmonografie „Breslau. Die Blume Europas“ in der englischen Originalausgabe. Vor 1989 war die Zeit für eine Annäherung zwischen alten und neuen Breslauern einfach noch nicht reif, auch nicht auf deutscher Seite. 1965 schrieben Polens Bischöfe unter Leitung des Breslauer Kardinals Kominek einen Hirtenbrief an ihre katholischen deutschen Amtsbrüder mit dem berühmten Satz: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“ Die Antwort aus Deutschland fiel damals nichtssagend aus.

Kürzlich, erzählt Stadtpräsident Dutkiewicz mit sichtlichem Stolz, habe sich der Kölner Kardinal Meisner persönlich bei ihm bedankt: für das Ende Oktober 2008 eingeweihte Denkmal des gemeinsamen Gedenkens. Die Vorgeschichte dieses Denkmals ist eine persönliche: Deutsche Freunde von Dutkiewicz hatten die Gräber von Verwandten gesucht und feststellen müssen, dass der Friedhof am Grabiszynski-Park eingeebnet worden war. Heute lädt dort eine Mauer mit 70 wiedergefundenen deutschen Grabsteinen zum gemeinsamen Totengedenken ein. Zu Allerheiligen, so Dutkiewicz, haben dort viele polnische Breslauer Kerzen entzündet. Versöhnung ist nicht nur ein Wort.

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