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Im engsten Kreise. Ira (Katja Riemann) will sich um ihren Vater kümmern, der zum Pflegefall geworden ist. Ihr Ehemann (Thomas Sarbacher) zögert noch.

© BR

Bürgerliches Trauerspiel: Pflege, Liebe, Lügen

"Die fremde Familie": Katja Riemann als strapazierte Mittelschichtsfrau in einem ausgezeichneten Film von Stefan Krohmer und Daniel Nocke.

Es beginnt mit einem schweren Gang auf die Intensivstation eines Krankenhauses. Eine Frau, Mitte 40, auf dem Weg zu ihrem Vater. Der 80-Jährige ist endgültig zum Pflegefall geworden. Seine Tochter will ihn nicht ins Heim abschieben. „Ich möchte meinem Vater ein würdiges Leben im Alter ermöglichen“, sagt sie dem vorerst wenig begeisterten Ehemann. Nachdem dieser jedoch die potenzielle Rundum-Betreuerin in Augenschein genommen hat, kann er sich eine häusliche Pflege plötzlich doch vorstellen. Nur der Pflegebedürftige bockt, will nicht so, wie sich das Ira, seine Tochter aus erster Ehe, und ihr Mann Marquard vorgestellt haben. Dann stört auch noch Iras Halbbruder Bernd die Familienkreise.

In „Die fremde Familie“, dem neuen Film von Regisseur Stefan Krohmer und Autor Daniel Nocke, geht es um die Überreste zweier Familien. Der Vater als Bindeglied – allerdings ohne jegliches Harmoniebedürfnis. Es bewegt sich zunächst wenig. Für Ira ist Bernd ein verantwortungsloser Filou, der sein Versagen hinter Charme und Lebensstil zu verbergen weiß. Vor allem aber ist er ein Störfaktor beim vernunftgesteuerten Kuschelkurs der Halbschwester. „Sie würde gerne die Anerkennung ihres Vaters gewinnen – und was ist Anerkennung anderes als Zuneigung“, sagt Hauptdarstellerin Katja Riemann. „Es ist etwas, was gefehlt hat und nach wie vor fehlt in der Beziehung zwischen Vater und Tochter. Es fehlt an Nähe.“

Diese Nähe stellt sich auch im Verlauf des Films nicht ein. Der Vater bleibt verbittert und flüchtet sich in sarkastische Sprüche. Einen besseren Stand bei dem alten Mann hat ausgerechnet Luftikus Bernd aus der sehr viel glücklicheren zweiten Ehe. Sollte Ira vielleicht ihr Bernd-Bild überdenken? Für Riemann jedenfalls ist das sich verändernde Verhältnis zwischen Bruder und Schwester „die eigentliche Liebesgeschichte des Films“.

Die Geschichte klingt ein wenig nach Familiendrama mit Relevanz-Zertifikat, nach klassischem Themenfilm also. Doch „Die fremde Familie“ ist alles andere als das. Autor Nocke nähert sich der Pflege sogar noch über ein weiteres sozial virulentes Thema, die Patchworkfamilie, durch die das soziale Gefüge, der innerfamiliäre Generationenvertrag, verstärkt auf die Probe gestellt wird. Die Pflege im Alter ist gekoppelt an versprengte Familien, und die erfolgreiche Sorge um die Eltern wird weitgehend zu einer Frage der Kommunikation. Da sind Krohmer und Nocke wieder bei ihrem speziellen Faible für zwischenmenschliche Rituale und Rationalisierungen, Lügen und Lebensstrategien. Seit zehn Jahren, seit dem Grimme-Preis-gekrönten „Ende der Saison“, widmen sie sich den „Familienkreisen“ der deutschen bildungsbürgerlichen Mittelschicht. Analytisch ihr Blick, ausschnitthaft und beiläufig die filmische Tonlage. Der Zuschauer sieht dem Alltäglichen beim Werden zu. Er erkennt Situationen, Bilder, und er ist ganz nah bei den großartig klein gespielten Figuren. In „Die fremde Familie“ spürt man oft schmerzlich die (unterdrückten) Emotionen der Protagonisten – den Kloß im Hals, das Grummeln im Bauch. Man sitzt als Zuschauer mit am Tisch. Die Schauspieler werden zu Vertrauten. Sie unterspielen das Drama. So entstehen Gefühle – im Abgleich zwischen Leben und Film, im Erinnern an eigene Erfahrungen, in der schonungslosen Draufsicht. „Das ist fast voyeuristisch – im kinematografischen Sinne“, so Riemann.

Der Realismus von Krohmer und Nocke durchdringt jede Szene, jede Geste und auch die Dialoge. „Nockes Sätze sind alles andere als diese alltäglichen Plätschersätze“, sagt Riemann. „Die Sätze legen sich dir nicht in den Mund. Im Drehbuch sieht es nach Alltag aus, nach Tischgespräch. Dann spielst du die Szene und fragst dich: Wieso kommt dieses Wort, dieser Satz nicht aus mir heraus? Der Satz verkantet sich im Mund.“

Als Zuschauer merkt man nichts davon. Sätze erscheinen wie zufällig dahingesagt. Doch zufällig ist nichts – im Krohmer/Nocke-Kosmos ebenso wenig wie im Leben. Und vorhersehbar ist in diesem Fernsehfilm vielleicht noch weniger als im Leben. Immer wieder spielt die Geschichte mit den Stereotypen des Beziehungsalltags und unterläuft dezent die Erwartungen der Zuschauer. Nicht Marquard wird ein Verhältnis mit der attraktiven Rumänin haben, sondern die ach so vernünftige Ira einen One-Night-Stand. „Die fremde Familie“ ist – vom Abenteuer der häuslichen Pflege ausgehend – ein hoch konzentrierter, mitreißender Film, der die Messlatte fürs Qualitätsfernsehen gleich zu Beginn des Jahres erst einmal unerreichbar hoch hängt.

„Die fremde Familie“, ARD, 20 Uhr 15

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