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Überlastet. Die Ärztin Carolin Mellau (Natalia Wörner, r.) und Assistentin Petra Bollmann (Bettina Stucky) arbeiten auf der Intensivstation am Limit.

© ZDF und PATRICK PFEIFFER

Corona-Drama mit Natalia Wörner: Triage am Bodensee

Was bedeutet Nächstenliebe im Angesicht des Todes? Was lehrt uns die Pandemie? Der erste Fernsehfilm zu Corona kommt spät, aber vielleicht nicht zu spät.

Das ganz tiefe Luftholen, der ängstliche Blick auf die Zimmerdecke gerichtet, ein Pfleger in Schutzkleidung hält das Beatmungsgerät auf das Gesicht einer Frau im Notfallbett. Die Narkose ins künstliche Koma wird eingeleitet. „Du kennst das ja. Mach’ uns keinen Kummer, Caro. Wir brauchen dich“, sagt der behandelnde Arzt. Ihre Augen schließen sich.…

Man muss bei diesem Film gar nicht spoilern. „Die Welt steht still“ zieht den Zuschauer mit der ersten Szene mitten rein in das, was die Welt seit fast zwei Jahren in Atem hält. Wenn es je einen wichtigen Fernsehfilm zur richtigen Zeit gab, dann diesen: Natalia Wörner als Konstanzer Intensivmedizinerin, die in der ersten Welle der Corona-Pandemie an vorderster Front den Kampf mit dem Virus aufnehmen muss – am Ende mehr, als ihr lieb ist. Die erste fiktive Großproduktion, die sich, abgesehen von ein paar Kurzprojekten und der mit dem Hajo-Friedrichs-Preis ausgezeichneten Doku-Serie „Charité intensiv: Station 43“, des Themas Corona annimmt, abseits der täglichen Nachrichten, Zahlen, Sondersendungen und Talkshows.

In den USA sind sie fiktiv ja schon deutlich weiter. Dort liefen im Herbst 2020 Folgen der im Frühjahr jenes Jahres produzierten Staffel der Familienserie „This Is Us“, in der das Leben der Protagonisten nicht nur wegen der Gesichtsmasken vom Verhalten in der Pandemie geprägt ist. Hierzulande taten sich Sender, Produzenten und Autoren schwerer mit dem naheliegenden Stoff.

Anfangs der zweiten Corona-Welle war branchenintern zu hören, dass das 2021, 2022 doch keiner mehr sehen will. Lasst uns lieber mehr eskapistische Geschichten machen. Jetzt, wo die Corona-Zahlen täglich exponentiell steigen, legt der ZDF-Film mit einer beeindruckenden Natalia Wörner eine Punktlandung hin („Die Welt steht still“, Montag, ZDF, 20 Uhr 15). 

Familien-Videos am Intensivbett

Da ist es dem Buch von Grimme-Preisträgerin Dorothee Schön („Charité“) nachzusehen, dass es seine Botschaften und Bilder manchmal überdeutlich formuliert. Der ältere Nachbar der Ärztin Carolin Mellau (Natalia Wörner), der Corona für eine Erfindung von Bill Gates hält, später selbst schwer an Corona erkrankt und sich nur widerwillig einweisen lässt („das ist doch ’ne Grippe!“) , die oft übersehenen Jugendlichen wie Mellaus Tochter Luzy und Sohn Tim, die via Homeschooling die digitale Bildungsmisere erfahren müssen, samt erstem Liebeskummer, weil Luzy ihren Freund in der Schweiz wegen dichtgemachter Grenzen verliert.

Die Pflegerinnen und Pfleger in den Seniorenheimen und Krankenhäusern, die an und über Grenzen gehen müssen, während die Kranken und Bewohner brutal einsam sind. Die Ärztinnen und Ärzte, die an den Betten der ins künstliche Koma versetzten Patienten sitzen, ihnen auf dem Tablet Familien-Videos vorspielen und nicht genug auf ihren eigenen Schutz achten.

Als Anästhesistin, die die Covid-19-Infizierten intubiert, trägt Doktor Mellau ein hohes Infektionsrisiko, was sie ausblendet. Schutzkleidung und Beatmungsgeräte fehlen anfangs noch.

Eine Halbgöttin in Weiß? Hier passt der oft abgenutzte Begriff. Erzählt wird tatsächlich von der aufopferungsvollen Arbeit einer Heldin des Alltags. Einsatz rund um die Uhr. Doktor Mellau wollte sich eigentlich aus der Klinik zurückziehen, der Familie und den pubertierenden Kindern widmen, da kommt das Virus im Februar 2020 aus China immer mehr auf Deutschland zu.

Da hilft eben auch der Blick zurück

Als die Bilder aus Bergamo um die Welt gehen, ist auch allen Nichtmedizinern klar, was das Wort Pandemie bedeutet. Vier Tage später gelten in Deutschland Ausgangsbeschränkungen. Die Mellau kann Klinik und Patienten nicht im Stich lassen.

Klar, es fehlt dem TV-Film die dramaturgische Pointe. Die 90 Minuten sind recht vorhersehbar. Wir kennen die Geschichten der vergangenen 19, 20 Monate. Und welche Autorin wagt sich beim Thema Corona an eine Überhöhung oder Parabel? Das alles wird chronologisch-sachlich, mit ruhigen Bildern (Kamera: Martin L. Ludwig, Regie: Anno Saul) erzählt. Von Wuhan an den Bodensee, mit Nachrichten und Merkel-Reden angereichert.

Gerade bei Letzterem denkt man: Wenn die Politiker auch nur so ihren Job gemacht hätten, wie Doktor Mellau & Co., wir stünden jetzt wohl nicht vor der vierten Welle mit vielen ungeklärten Fragen (Boostern, Notfallmedizin, pandemische Lage).

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Da hilft eben auch der Blick zurück. Der Film lässt es spüren, die Triage-Debatten, die Überforderung, die große Verunsicherung jener Monate, denen so viele verunsichernde Monate folgten und wohl noch folgen werden.

Die Welt steht ja fast wieder still angesichts der steigenden Infektionszahlen und knapper werden Intensivbetten. Und immer wieder: die Impffrage (die in der Chronik des Films noch nicht vorkommt). Vielleicht schafft es diese dramatische Fiktion besser als Karl Lauterbach, bei dem einen oder anderen Zuschauer für Bewusstseinswandel zu sorgen. Gerade auch mit der fast über-menschlichen Ärztin Mellau/Wörner als Projektionsfläche, die sich vom verschwörungsanfälligen Nachbarn beschimpfen lässt, um später am Intensivbett ein Foto von dessen Händen zu machen und es der Witwe zu schenken.

Der Film ist gewidmet den bislang 90 an Corona verstorbenen Personen des medizinischen Personals. Über 91 000 hatten sich angesteckt (Stand 1. Juli), heißt es im Abspann. Mehr ist dazu nicht zu sagen und besser im Film zu zeigen.

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