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8.6.1972, Vietnam, Trang Bang: Die neunjährige Kim Phuc Phan Thi (Mitte) flieht nackt mit ihren Brüdern und Cousins vor einem Napalm-Angriff. Es ist eine der denkwürdigsten Aufnahmen des 20. Jahrhunderts: Nick Ut drückt auf den Auslöser.

© dpa

Napalm Girl: Das Bild des Vietnamkriegs

Vor 50 Jahren: Nick Út fotografiert die neunjährige, vom Napalm verbrannte Kim Phúc

Es ist ein Bild, das keiner vergisst, der es jemals gesehen hat. Nackt und schreiend läuft ein junges Mädchen frontal auf den Fotografen zu. Der drückt den Auslöser – und hält in einem winzigen Moment den großen Schrecken des Vietnamkrieges auf Film fest. „The Terror of War“ – so der Titel der Aufnahme – ist noch fünf Jahrzehnte nach dem 8. Juni 1972 eine der bedeutendsten und authentischsten Darstellungen von Gewalt und Gräueltaten, denen die Zivilbevölkerung in einem Krieg ausgesetzt ist.

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„Was ist fragiler als ein kleines, nacktes, neunjähriges Mädchen mitten in einem völlig absurden Kontext – nämlich auf offener Straße umgeben von Militärpersonal“, erklärt der Experte für Fotografiegeschichte, Michael Ebert, die Sogwirkung der Aufnahme. „Wenn Kinder zu Opfern werden, berührt uns das immer ganz, ganz stark.“

Die Vietnamesin Kim Phúc im Jahr 2015.

© dpa

Die Qualen des Mädchens Thi Kim Phúc in der Mitte der Szenerie sind das zentrale Element in der Bildkomposition. Ihr Cousin im Vordergrund, auch die anderen Kinder gehören zur Familie. Im Hintergrund: Soldaten und dicke Rauchschwaden. Die ausgebreiteten Arme lassen christliche Betrachter wohl an Jesu Tod am Kreuz denken. Ein weiterer Faktor, der dieses Bild in seiner ikonischen Wirkung so berührend mache, sei das Happy End, so Ebert. Kim Phúc überlebt.

Der Bombenabwurf, ein Irrtum

Als am 8. Juni 1972 die südvietnamesische Armee das Dorf Trang Bang etwa 40 Kilometer nordwestlich des damaligen Saigon (heute Ho-Chi-Minh-Stadt) beschießt, ist der Abzug der mit ihr verbündeten US-Truppen aus dem Land bereits in vollem Gange. Der Krieg wird immer mehr zu einem vietnamesischen Krieg. Im Dorf Trang Bang vermutet die südvietnamesische Luftwaffe Vietcong. Ein Irrtum, es werden Dorfbewohner und eigene Soldaten mit Napalm bombardiert. Vor Ort ist Fotograf Nick Ut. Der 21-jährige Vietnamese arbeitet für die US-Nachrichtenagentur Associated Press (AP). „Ich sah, wie ein Flugzeug vier Napalmbomben abwarf“, schreibt er später im US-Magazin „Newsweek“. Menschen, die teils tote Kinder in ihren Armen halten, rennen auf ihn zu. Darunter auch Kim Phúc. „Ich fragte mich, warum sie keine Kleidung trug. Aber als ich näher an sie heranlief und Fotos machte, konnte ich sehen, wie schwer verbrannt sie war.“ Es dauert maximal 15 Sekunden, bis der Fotograf und seine Kollegen anderer Medien den Kindern helfen. Ut selbst bringt das Mädchen und weitere Verwundete in ein Krankenhaus. „Er hat ihr das Leben gerettet mit dieser Aktion“, sagt Ebert, der sich seit Jahren intensiv mit dem Foto und dessen Protagonisten auseinandersetzt. Anlässlich des 50. Jahrestages kuratiert er eine Ausstellung in Hilden. „Ich habe alle Aufnahmen ausgewertet, die gemacht worden sind“, sagt der Wissenschaftler. Mehrere Fotografen seien in Trang Bang gewesen. „Nur Nick hat das Bild der Bilder gemacht.“

Kim Phúc rückt in die Mitte

Eigentlich zeigt Uts Aufnahme einen größeren Ausschnitt der Szene: Am rechten Bildrand sind noch weitere Soldaten und ein Fotograf zu sehen. Das ursprüngliche Kleinbildformat wird aber bereits im AP-Büro in Saigon passend für das Zeitungsformat beschnitten: Kim Phúc rückt dabei in die Mitte – und gibt der Aufnahme die bis heute gelobte Energie.
Nach Uts Ankunft aus dem Krankenhaus in der Redaktion wird das Foto an die Zentrale nach New York gefunkt. Trotz Verstoßes gegen die Regel, eigentlich keine vollständig nackten Personen zu zeigen, geht die Aufnahme in den weltweiten AP-Dienst. Leicht retuschiert, weil die Furcht bestand, die Schatten auf dem Körper des Mädchens könnten als Schamhaare gedeutet werden. Was die Frage provoziert: Würde ein solches Motiv heute, also in den Tagen des Ukrainekrieges, weltweit gedruckt oder würden presseethische Bedenken es verhindern? Immerhin zeigt das Motiv einen Menschen nackt und bloß, seine Intimität wird negiert.

Coverbild der "New York Times"

Schon am Abend drucken erste Blätter das Bild , am Tag darauf ist es auf der Titelseite der „New York Times“. Die Reaktionen kommen schnell. US-Präsident Richard Nixon nennt das Foto eine Fälschung, Tausende Amerikaner demonstrieren erneut für eine Beendigung des Krieges. Das Bild erfährt seine weltweite Verbreitung. Dies habe, sagt Kim Phúc später, maßgeblich dazu beigetragen, dass die USA und Nordvietnam im Januar 1973 einen Waffenstillstand vereinbart hätten. Es wird später als „Pressefoto des Jahres“ ausgezeichnet, zudem erhält Ut den Pulitzer-Preis. Anfang 2021 verleiht ihm US-Präsident Donald Trump die National Medal of Arts. Kim Phúc erleidet damals auf der Hälfte ihres Körpers Verbrennungen dritten Grades. 14 Monate muss sie im Krankenhaus bleiben. Heute arbeitet die 59-Jährige als Friedensbotschafterin unter anderem für die Vereinten Nationen. Seit Anfang der 1990er Jahre lebt sie in Kanada, aktuell in Toronto.

Verlorene Kindheit

„Dieses Bild erinnert mich immer wieder daran, dass ich meine Kindheit verloren habe“, sagte sie während einer Audienz mit ihrem guten Freund Ut bei Papst Franziskus. „Ich bin nicht länger ein Opfer des Krieges. Ich bin eine Mutter, eine Großmutter und eine Überlebende, die zum Frieden aufruft.“

Street-Art-Provokateur Banksy rahmte das „Napalm Girl“ mit Mickey Mouse und dem McDonald’s-Clown.

© mauritius images / Alamy Stock Photos / Matthias Kestel

Gerhard Paul hat in einem Beitrag für die „Zeit“ aufgeschrieben, wie sehr das ikonografische Motiv Künstler beschäftigt hat. Die bemerkenswerteste Aufarbeitung stammt wohl von dem britischen Street-Art-Artisten Banksy, der das Mädchen in das Graffito „Napalm (Can’t Beat that Feeling)“ projiziert, an den Händen gefasst von den US-Kulturikonen Mickey Mouse und Ronald McDonald. Ein amerikanischer Albtraum – wie der gesamte Vietnamkrieg. (mit dpa)

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