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Nein heisst Nein - seit vier Jahren gilt das neue Sexualstrafrecht.

© imago/Christian Mang

Tausende Sexualdelikte bleiben ungesühnt: Opferschutzbeauftragter wirft Polizei und Justiz Versagen vor

Viele Anzeigen, wenig Verurteilungen. Berlins Opferschutzbeauftragter Roland Weber klagt an: Behörden und Gerichten fehlen Technik, Erfahrung und Fachkenntnis.

Das Dunkelfeld ist gigantisch, die Verurteilungsquote gering: Berlins Opferbeauftragter wirft Politik, Justiz und Polizei bei der Aufklärung sexueller Gewalt Versagen vor. „Die angezeigten Taten werden nicht mit der Sorgfalt bearbeitet, die bei solch schweren Taten in einem Rechtsstaat erwartet werden dürfen“, sagte Roland Weber dem Tagesspiegel. An diesem Zustand hätten auch die Gesetzesänderungen der vergangenen Jahre kaum etwas geändert.

Vor knapp vier Jahren trat das schärfere Sexualstrafrecht mit der so genannten Nein-heißt-Nein-Regel in Kraft. Seit dem 1. Januar 2020 gelten in Deutschland neue Regeln für die Videovernehmung erwachsener Opferzeugen. Diese Videoaufzeichnung sollen später im Prozess anstelle der Zeugenaussage verwendet werden.

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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) erklärte dazu: „Wir machen es zur Regel, dass die Vernehmung von allen Opfern von Sexualstraftaten im Ermittlungsverfahren von einem Richter erfolgt und audiovisuell aufgezeichnet wird.“

Doch die Änderung der Strafprozessordnung sei bislang ein reines Lippenbekenntnis, sagte Opferbeauftragter Weber. „Wenn der Gesetzgeber die Videovernehmung vorsieht, dann muss er auch die Mittel bereitstellen, dass es umgesetzt wird.“ Denn in Berlin stellt diese „Regel“ bislang die absolute Ausnahme dar. „Seit Jahresbeginn wurden ungefähr ein Dutzend derartiger Vernehmungen durchgeführt“, sagte Lisa Jani, Sprecherin der Berliner Strafgerichte.

Für die Videobefragung fehlt Technik und Personal

Für die Videobefragung von Beschuldigten und erwachsenen Zeugen stehen laut Gerichtssprecherin in Moabit bisher sechs Ermittlungsrichter und eine mobile Anlage zur Verfügung. Derzeit werde eine Ausschreibung vorbereitet, um alle Ermittlungsrichterzimmer in Moabit mit Videoanlagen auszustatten. Seit Inkrafttreten der sogenannten Nein-heißt-Nein-Regel hat die Bereitschaft, eine Anzeige zu stellen, deutlich zugenommen. In Berlin stieg die Zahl der angezeigten schweren Sexualdelikte (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall) nach der Reform von 586 auf 1002 Fälle, also um 70 Prozent. Im Folgejahr sank die Zahl auf 768 angezeigte Fälle.

Spezialisten nur bis 19.30 Uhr im Dienst

Doch ein großer Teil der Verfahren wegen Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung wird mangels Tatverdacht wieder eingestellt wird. 2018 galt dies laut statistischem Bundesamt für 32 000 der insgesamt 72 000 Fälle. Die niedrige Verurteilungsquote führt der Opferschutzbeauftragte auf die fehleranfällige Arbeit der Ermittlungsbehörden zurück. In Berlin kümmern sich die Spezialisten des Landeskriminalamts 13 um alle Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung – allerdings nur werktags bis 19.30 Uhr.

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„Die Polizei in den Ländern hat Sorge dafür zu tragen, dass sie ihre Beamten nicht nur durch Infoblättchen weiterbildet, sondern dass geschultes Personal auf traumatisierte Geschädigte trifft“, sagte Weber. Dies müsse auch nachts und am Wochenende gewährleistet sein.

Viele Richter haben keine Erfahrung im Bereich der Sexualdelikte

Dass es so oft zu streitbaren Urteilen kommt, liege zudem daran, dass auch die Justiz keine hinreichenden Fortbildungen zum Umgang mit Sexualstraftaten biete. „In Berlin haben junge Richter und Richterinnen am Amtsgericht über Sexualdelikte zu urteilen, obwohl sie keinerlei Fachkenntnisse oder Berufserfahrung im Bereich der Sexualdelikte vorzuweisen haben“, sagte Weber.

Als Nebenklagevertreter muss Weber in Ermittlungsverfahren oft gegen einen Generalverdacht ankämpfen, der bei Polizei und in der Justiz noch immer verbreitet sei. Die Opfer müssten sich gegen den Vorwurf wehren, selbst Schuld zu sein oder zumindest zu einem „Missverständnis“ beigetragen zu haben. Außerdem gilt die niedrige Aufklärungsquote nur für das Hellfeld.

Eine Studie im Jahr 2014 kam für Niedersachsen zu dem Schluss, dass nur etwa sieben Prozent der Sexualdelikte angezeigt wurden, in Schleswig-Holstein waren es acht Prozent. Durch die öffentliche Debatte sei diese Zahl in den vergangenen Jahren vermutlich deutlich gestiegen, sagte Weber. Trotzdem sei noch immer von einem sehr hohen Dunkelfeld auszugehen.

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