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Beamte der Spurensicherung ermitteln in Bad Salzuflen, nachdem Polizisten auf einen flüchtenden Autofahrer geschossen haben.

© dpa/Westfalennew/T. Freitag

Update

34 Schüsse auf Flüchtenden: Wie kam es zu dem dramatischen Polizeieinsatz in NRW?

Ein 19-Jähriger rast in Herford vor einer Kontrolle davon, in einer Sackgasse in Bad Salzuflen wird er gestellt. Es fallen Schüsse. Eine Rettungskraft sieht „exzessive Polizeigewalt“.

Es klingt wie eine Geschichte aus den USA, in Wahrheit ereignete sie sich jedoch im beschaulichen Ostwestfalen-Lippe: Ein 19-jähriger Autofahrer liefert sich am 3. Juni eine wilde Verfolgungsjagd mit der Polizei. Sie beginnt an dem frühen Samstagmorgen im nordrhein-westfälischen Herford und endet rund zehn Minuten später auf dramatische Weise in einer Sackgasse im benachbarten Bad Salzuflen in Lippe.

Mehr als 30 Schüsse feuern die Polizeibeamten auf den jungen Mann, weil sie sich nach eigenen Angaben bedroht fühlten. Der Mann kam schwer verletzt in eine Klinik. Er bleibt vermutlich querschnittsgelähmt, es stünden aber noch weitere Operationen aus, heißt es.

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Strafverfahren gegen den jungen Mann und und sechs Beamte eingeleitet. Die Behörden ermitteln gegen den 19-Jährigen wegen versuchten Mordes in Verdeckungsabsicht, wie ein Beamter des Landesjustizministeriums in einer Sondersitzung des Innenausschusses im Düsseldorfer Landtag am Mittwoch sagte.

Ich verstehe es nicht. Über 30 Schüsse mitten in der Siedlung. Dabei hatten die den doch schon, der konnte doch gar nicht mehr weg.

 Jakob Reimer, Anwohner in der Sackgasse in Bad Salzuflen

Gegen sechs Beamte werde wegen Körperverletzung im Amt ermittelt. Allein die Zahl der abgegebenen Schüsse mache „nachdenklich“, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) vor dem Innenausschuss. Was ist bisher bekannt?

13 Kilometer Verfolgungsfahrt von Herford nach Bad Salzuflen

Wie der „Spiegel“ berichtet, hatte sich Bilel G. Angaben seines Anwalts zufolge in der betreffenden Nacht den Autoschlüssel seiner Mutter genommen. Er hat keinen Führerschein und war mit dem Audi offenbar auch ohne Licht losgefahren. Nur wenige Hundert Meter von der Wohnung seiner Eltern entfernt, fiel der Wagen deswegen einer zivilen Polizeistreife auf.

Sie forderten ihn zum Anhalten auf. Nach Angaben der Polizei beschleunigte er stattdessen und fuhr davon. Wie die Beamten protokollierten, floh G. in Herford mit rund 160 Kilometern pro Stunde. Auf einer Landstraße soll er dann auf rund 200 Kilometer pro Stunde beschleunigt haben.

Es begann eine rund 13 Kilometer lange Verfolgungsjagd, an der sich immer mehr Polizeiwagen beteiligten. G. bog den Berichten zufolge schließlich in Bad Salzuflen in eine Sackgasse vor dem Haus von Jakob Reimer, wie es in dem Bericht des Nachrichtenmagazins heißt.

Der hörte kurz vor 5 Uhr morgens demnach erste einzelne Schüsse. „Dann ging es wirklich los, ich dachte, das könnte nur eine Maschinenpistole sein“, zitiert ihn das Blatt. Der 70-jährige Rentner sagte demnach weiter: „Ich verstehe es nicht. Über 30 Schüsse mitten in der Siedlung. Dabei hatten die den doch schon, der konnte doch gar nicht mehr weg.“

Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, sieht noch offene Fragen zu dem Fall in Bad Salzuflen und Herford.
Herbert Reul (CDU), Innenminister von Nordrhein-Westfalen, sieht noch offene Fragen zu dem Fall in Bad Salzuflen und Herford.

© dpa/David Young

Wann und vor allem warum so viele Schüsse fielen, soll die Mordkommission „Heide“ ermitteln – ob die Beamten schossen, als der Wagen auf sie zufuhr. Oder ob sie schossen, als der Wagen stand. Die Antworten auf diese Fragen werden die Bewertung dieses Falls bestimmen. Videomaterial vom Einsatz gibt es laut Staatsanwalt nicht.

Die Bodycams waren dafür gedacht zu deeskalieren, nicht Beweise zu sichern.

Herbert Reul, NRW-Innenminister (CDU)

Dass keine Aufzeichnungen des Einsatzes durch Bodycams oder Fahrzeugkameras vorlägen, sei „leider ein Problem der Rechtslage“, sagte Reul nach der Innenausschuss-Sitzung vor Journalisten, wie die Agentur AFP berichtete. Bodycams etwa dürften Polizisten nur in bestimmten Situationen einschalten, dies müssten die Beamten zudem selbst entscheiden. „Die Bodycams waren dafür gedacht zu deeskalieren, nicht Beweise zu sichern“, sagte der Innenminister.

Viele Fragen könnten wegen laufender Ermittlungen noch nicht beantwortet werden, so Reul weiter. Die Beamten hätten jedoch „größtmögliche Vorsicht“ walten lassen müssen, weil sie nicht gewusst hätten, was sie erwartete. Einsätze dieser Art seien zudem „die absolute Ausnahme“, sagte Reul.

Nach Angaben der beteiligten Beamten kam der junge Mann Aufforderungen, sein Auto zu verlassen, nicht nach. Den Ministeriumsangaben zufolge fuhr der 19-Jährige „mit quietschenden Reifen“ auf einen Polizeibeamten zu, der inzwischen „frontal“ vor dem Auto des 19-Jährigen stand. Insgesamt zwei Polizisten mussten demnach ausweichen, um nicht angefahren zu werden. In der Folge gaben sechs Polizeibeamte demnach dann mehr als 30 Schüsse ab.

Staatsanwältin spricht von insgesamt 34 Schüssen

Wie die ermittelnde Staatsanwältin der „Neuen Westfälischen“ (NW) am Dienstag miteilte, sei die genaue Zahl der Schüsse Gegenstand der noch nicht abgeschlossenen rechtsmedizinischen Untersuchung. Sie bezifferte die Zahl demnach aber auf 34.

Ein Privatfoto vom Tatort, das der „Spiegel“ veröffentlichte, zeigt in der Windschutzscheibe des Audis sieben Einschusslöcher. Dem Bericht zufolge sind zudem mehrere kleine Einkerbungen in den Bordsteinen zu sehen – geschlagen von den Kugeln.

Wie der „Spiegel“ weiter berichtet, hieß es in einer ersten Polizeimeldung, die am Samstag veröffentlicht wurde, dass der Audi in der Sackgasse gewendet habe. Die Polizisten seien ausgestiegen, um den Fahrer festzunehmen. Der sei „mit augenscheinlich erhöhter Geschwindigkeit auf die Beamten“ zugefahren. Die Polizisten hätten das Feuer eröffnet. En Beamter sei von einem Streifschuss oder Querschläger leicht verletzt worden.

Vier Tage später sei dem Blatt zufolge in einer zweiten Pressemitteilung von erhöhter Geschwindigkeit keine Rede mehr gewesen. Es hieß demnach lediglich, dass G. „nach derzeitigen Erkenntnissen den Audi vorwärts in Bewegung gesetzt“ habe. Und weiter: „Zum jetzigen Ermittlungsstand ist noch unklar, ob der Tatverdächtige gezielt auf die Beamten zufuhr.“

13 Beamte seien am Einsatz beteiligt gewesen. Sechs Polizisten hätten geschossen. Eine Maschinenpistole sei nicht abgefeuert worden. Wie die „NW“ berichtete, wurde G. den offiziellen Angaben zufolge fünfmal getroffen, die Familie des Mannes will von den behandelnden Ärzten von acht Schussverletzungen erfahren haben.

War der Polizeieinsatz verhältnismäßig oder eine Überreaktion?

Noch gibt es viele Fragen, die die Mordkommission durch ihre Ermittlungen klären muss. Es wird um die Frage gehen, ob der Einsatz verhältnismäßig war und warum die Beamten so viele Schüsse abfeuerten. War es eine Überreaktion? Hatten die Polizisten Angst vor einer Attacke aus dem Audi?

Wie soll man in diesem kurzen Wendehammer so beschleunigen können, dass eine hohe Geschwindigkeit erreicht wird?

Rettungskraft am Tatort in Bad Salzuflen

Wie der „Spiegel“ weiter berichtet, sei ab 4.57 Uhr eine erfahrene Rettungskraft am Tatort gewesen. Während der Behandlung habe das Team sechs Schussverletzungen gefunden, berichtete die Rettungskraft dem Blatt: einen Durchschuss am rechten Unterarm, zwei Treffer in den Brustkorb, drei Einschüsse in den Rücken, einen Streifschuss an der Stirn.

Die Lungenflügel seien demnach eingefallen gewesen. Geschossen worden sei, so habe es von einem Polizeibeamten geheißen, mit 9-Millimeter-Munition, die im Körper aufpilzt und nicht wieder austritt.

Die Rettungskraft äußerte dem Bericht zufolge Zweifel daran, dass der Audi losgebraust sein kann: „Wie soll man in diesem kurzen Wendehammer so beschleunigen können, dass eine hohe Geschwindigkeit erreicht wird?“ Es habe maximal zwei Fahrzeuglängen Platz gegeben. „Und wenn eine hohe Geschwindigkeit erreicht worden wäre: Hätte dann nicht in dem Audi ein Airbag auslösen müssen?“

In Herford tauchen polizeifeindliche Parolen auf

Das Magazin berichtet, ihm lägen Fotos von dem laufenden Rettungseinsatz vor. Sie zeigen demnach das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven: Der Audi sei demnach in den Polizeistreifenwagen gefahren. Die Beifahrertür des Fords der Polizei sei leicht eingedrückt – wenige Zentimeter vielleicht, schreibt das Blatt. Die Unfallspuren erinnerten an eine Kollision auf einem Supermarktparkplatz.

Neben den Einschusslöchern in der Windschutzscheibe gebe es mindestens zwei in der Motorhaube und zwei in der Beifahrertür. Die Schüsse müssten von mindestens zwei Orten aus abgegeben worden sein, auch die Motorhaube eines Polizeiwagens wurde aufgerissen. Die Rettungskraft sagte demnach, für sie deute vieles auf „exzessive Polizeigewalt hin“.

Wie die „NW“ weiter berichtete, wurden in der Nacht zu Dienstag in der Herforder Innenstadt Stromkästen, Schaufenster und Wände mit Parolen beschmiert: „Nehmt den Cops die Knarren ab“ und „30 Schüsse“ war demnach zu lesen.

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