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Dschochar Zarnajew muss sich bei seinem ersten Tag vor Gericht zur Anklage äußern. Der Vorwurf: Mehrfacher Mord.

© dpa

Attentäter des Boston-Marathon vor Gericht: Ohne jede Regung

Erstmals trat der mutmaßliche Attentäter vom Boston-Marathon vor Gericht den Angehörigen der Opfer gegenüber. Reue zeigte er nicht. Nun droht ihm vielleicht die Todesstrafe.

„Ich bin hier für meine Familie.“ Liz Norden hat zwei Söhne, die bei dem Bombenanschlag auf den Boston-Marathon je ein Bein verloren haben. „Die beiden haben jeden Tag zu kämpfen, und es bricht mir das Herz. Ich wollte jetzt sehen, wer ihnen das angetan hat.“ Vor einem Bezirksgericht in Boston konnte Norden nun persönlich sehen, wer ihren Söhnen die Beine nahm: Der mutmaßliche Attentäter Dschochar Zarnajew musste zur Anklage Stellung nehmen. Es war sein erster öffentlicher Auftritt seit den Anschlägen im April und seiner Verhaftung nach einer spektakulären Jagd, die letztlich unter dem Winterverdeck eines Motorbootes im Bostoner Stadtteil Watertown endete.

So wie Liz Norden waren zahlreiche Überlebende gekommen, dazu Hinterbliebene der Opfer, um dem Attentäter persönlich gegenüber zu stehen – und um geschockt festzustellen: Zarnajew zeigt keine Spur von Reue. Zunächst wollte sich der 19-Jährige vor Gericht gar nicht selbst äußern. Doch Richterin Marianne Bowler ließ nicht zu, dass Verteidigerin Judy Clarke für den Angeklagten agierte. Aus der 72-seitigen Anklage verlas Staatsanwalt William Weinreb dreißig einzelne Anklagepunkte, zusammengefasst in sieben Kategorien. Sieben mal fragte Bowler: „Wie bekennen Sie sich?“ – Sieben mal antwortete Zarnajew: „Nicht schuldig.“ Er sprach nuschelnd, mit leichtem Akzent.

Es gehört vermutlich zur Strategie der Verteidigung, dass sich Zarnajew hinter seinem großen Bruder versteckt, unter dessen Einfluss er zweifellos stand. Tamerlan Zarnajew war frühen Erkenntnissen zufolge der autoritäre Anführer des Duos. Er kam bei einer Schießerei mit der Polizei ums Leben. Sein jüngerer Bruder soll ihn laut einer Rekonstruktion der Szene bei der Flucht aus dem Kugelhagel mit seinem gestohlenen SUV überrollt und tödlich verletzt haben. Vieles spricht dafür, dass Zarnajew mit seiner Verteidigung scheitern wird. Vor allem ein Bekenntnis, das er in den letzten Stunden vor seiner Verhaftung auf die Innenwand seines Versteckes schrieb, ist für die Anklage Beweis genug, dass Dschochar Zarnajew die Motive seines Bruders bewusst teilte.

„Die amerikanische Regierung tötet unschuldige Menschen. Ich kann nicht mit ansehen, wie solch Übel ungestraft bleibt“, schrieb er. „Wer einen Moslem verletzt, verletzt alle Moslems. Unschuldige Menschen zu töten ist im Islam verboten, aber unter diesen Umständen ist es erlaubt.“ Justizexperten sehen diese letzte Notiz von Dschochar Zarnajew als Beweis dafür, dass er nicht nur seinem Bruder folgte, sondern seine eigenen Gründe für die Anschläge hatte.

Dem widersprechen einige Fans des Angeklagten, die sich schon früh morgens vor dem Gerichtsgebäude eingefunden hatten. Jennifer Michio aus Connecticut trägt ein T-Shirt mit der Botschaft „Zarnajew ist unschuldig“, und Duke La Touf, der aus Las Vegas angereist ist, sagt in einem Interview mit Journalisten: „Das ganze ist ein Komplott der Regierung.“ Doch sind die Zarnajew-Fans ganz klar in der Minderheit, und nicht einmal von früheren Freunden bekommt der Attentäter Unterstützung. „So wie ich ihn kenne, ist es schwer für mich, mit seiner Tat umzugehen“, sagt Hank Alvarez, der mit Zarnajew im Ringen antrat.

Selbst Zarnajews Familie äußerte sich im Umfeld der Anhörung nicht unterstützend oder rechtfertigend. Seinen beiden anwesenden Schwestern schenkte Dschochar einen Luftkuss und ein kurzes Lächeln, das aufgrund einer vermutlichen Kieferverletzung etwas gequält wirkte. Der Angeklagte hat die gesamte Zeit seit den Anschlägen im Krankenhaus verbracht, wo seine beträchtlichen Schuss- und Schnittverletzungen behandelt wurden. Heftig diskutiert wird nach der Anklageverlesung das mögliche Strafmaß für Zarnajew: Auf 17 der 30 Anklagepunkte steht die Todesstrafe – darunter den Einsatz von Massenvernichtungswaffen und mehrfachen Mord. Unklar ist jedoch, ob die Staatsanwalt die Todesstrafe fordern will, oder ob man sich mit der Verteidigung auf lebenslange Haft gegen ein umfassendes Geständnis und einen tiefen Einblick in die Hintergründe der Tat einigen will.

Bostons Bürgermeister Thomas Menino scheint davon auszugehen: „Wir sollten ihn irgendwo einsperren und den Schlüssel wegwerfen“, sagte er dem „Boston Herald“. Zahlreiche Angehörige der Opfer hoffen hingegen auf die Todesstrafe. Einige waren sichtlich verstört, als sie Zarnajew ohne Zeichen von Reue sahen. „Er kam sehr selbstgefällig rüber“, meinte John DiFava, Chef der Campuspolizei des Massachusetts Institute of Technology. Ein Wachmann der Eliteuniversität wurde vermutlich von Dschochar Zarnajew getötet, als der auf der Flucht war.

Im direkten Umfeld des Marathons waren zuvor drei Menschen durch die beiden selbstgebastelten Bomben umgekommen: ein achtjähriger Junge, eine 23-jährige aus China stammende Studentin, und eine 29-jährige Restaurant-Angestellte.

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