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Reportage: Ausreißer nach unten

Mehr als 2500 Jugendliche leben in Berlin auf der Straße. Auch Sven gehörte dazu, bevor er in einem Heim für Obdachlose unterkam. Doch nun will er auch das hinter sich lassen.

Die Nächte, die Kälte, an die denkt Sven noch immer. Mit dicker Jacke und warmem Pullover schlich er sich damals in das leerstehende Gebäude. Große Räume und geflieste Flure gab es dort, manche ohne Fenster. Stockdunkel war es da abends. Sven lief an diesen schwarzen Löchern vorbei. Seine Schritte hallten laut, überall standen Türen halboffen. In einem Raum fand er einen älteren Mann. Der hatte sich in seinem Schlafsack zusammengerollt. „Es war so schrecklich kalt“, erinnert sich Sven. Er hatte keinen Schlafsack – aber auch kein Zuhause. Also blieb er, zog die Jacke fest um sich und versuchte zu schlafen.

Zweieinhalb Wochen lang war Sven, 18 Jahre alt, im Februar 2008 obdachlos und übernachtete auf der Straße. Es folgten: ein paar Monate Kriseneinrichtung, dann, bis Anfang 2009, betreutes Einzelwohnen. Momentan lebt er in einem Heim für wohnungslose Männer in Marienfelde. Zusammen mit mehr als 90 anderen. Das Wohnheim von der Organisation Internationaler Bund hat ihren freien Fall nach ganz unten gebremst – vorerst.

Deswegen will Sven, dessen Eltern vor seiner Geburt aus Polen nach Berlin kamen, seinen ganzen Namen nicht nennen. Wenn er läuft, schaut er auf den Boden. Als ob er Angst hätte, dass man mit einem Blick in seine blauen Augen, in sein trauriges Gesicht, alles sehen könnte. Den vergangenen Winter, die Nächte im Freien, die 6000 Euro Schulden, die er mit unbezahlten Handyrechnungen anhäufte. Und dass ihm seit einer Schlägerei ein Schneidezahn fehlt.

Sven ist einer der jüngsten im Heim, er ist schmal und nicht besonders groß, trägt helle, weite Jeans und Turnschuhe. Insgesamt wohnen in Marienfelde 14 Jungen zwischen 18 und 25 Jahren. Die Leiterin Uta Sternal meint, dass immer mehr junge Menschen in Svens Alter auf der Straße landen. Das ist zwar ein subjektiver Eindruck und manche anderen Sozialarbeiter bestätigen ihn nicht. Aber es gibt auch seit der Einführung von Hartz IV keine offizielle Statistik mehr, die ihn widerlegt. Die letzten Schätzungen stammen aus dem Jahr 2006. Da waren rund 2760 Jungen und Mädchen zwischen 18 und 28 in Berlin obdachlos.

Irgendwann kommen die Jungen vielleicht in Uta Sternals Heim, das eines ist von vielen in Berlin. Gründe dafür gibt es viele, sie sind kompliziert. Streit mit den Eltern, Drogen und Probleme mit den Ämtern. Weil sich keiner richtig verantwortlich fühle, sagt Sternal. Weder die Jugendhilfe, die sich ungern um die kümmere, die älter seien als 18. Und auch nicht die Jobcenter. Denn wer jünger als 25 und arbeitslos ist, hat nach den Hartz-Gesetzen kein Recht auf eine eigene Wohnung, sondern gehört zu einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft, also etwa einer Familie. Und bei der Jugendhilfe, erklärt Marion Thurley vom Jugendamt Neukölln, ist die Unterstützung oft an Bedingungen gebunden. Zum Beispiel, dass sich jemand um eine Ausbildung bemüht. Viele hätten auf solche Verpflichtungen keine Lust, sagt Thurley.

Auch Sven hat nach einem Streit mit seinem Vater seine Sachen gepackt, ein paar Klamotten, wichtige Zeugnisse, seinen MP3-Player. Wann der Stress anfing, weiß er nicht mehr genau. Etwa dann, als er „falsche“ Freunde kennenlernte, begann, nachts illegal Graffiti zu sprayen, zu kiffen. 15 war er da. Vom Gymnasium wechselte er auf die Realschule, schließlich auf die Hauptschule. Die hat er nicht beendet. Immer habe sein Vater wegen schlechter Noten genörgelt. Erst schlief Sven bei Freunden, doch ewig konnte er dort nicht bleiben. Also zog er auf die Straße. „Für mich war das extrem schlimm“, sagt er. Geld hatte er keins, Essen musste er klauen.

Warum er nicht einfach zurück nach Hause ging? Weil er zu stolz ist – und stur. So schlief er lieber eine weitere Nacht in einer Notunterkunft für Obdachlose, als er Anfang 2009 seine Wohnung beim betreuten Einzelwohnen räumen musste. Nach seinem 18. Geburtstag im Sommer habe man ihm nahegelegt, sich eine eigene Wohnung zu suchen, erzählt er. Und dass er zu dieser Zeit wirklich viel gekifft habe – weswegen er das mit der eigenen Wohnung nicht hinbekam.

Richtig gut schlafen konnte er in der Notunterkunft auch nicht, erzählt Sven. Weil dort alle um sechs Uhr morgens geweckt und wieder hinausgeschickt werden. Und weil es dort so viele gibt, die ihre Geschichte irgendjemandem erzählen wollen. Sven hörte zu, weil er dann nicht über sein eigenes Leben reden musste. Immerhin: Die harten Drogen, die man ihm auf der Straße anbot, habe er nicht angerührt. Aus Angst, dass er Gefallen daran finden könnte.

Bis heute hat er keinen Kontakt zu seinen Eltern. Nur mit seinem älteren Bruder telefoniert er manchmal. Er vermisst seine Familie, ein bisschen zumindest. Vor allem seine kleine Schwester, die 16 ist, und der er gern ein guter großer Bruder wäre. „Aber ich schätze die Chance ist jetzt vorbei“, sagt er. Nun will er den Hauptschulabschluss nachmachen. Und erst mit dem guten Zeugnis in der Hand zu seinem Vater gehen, ihm zeigen, dass er doch etwas kann.

Gerade hat Sven Hartz IV beantragt. Momentan macht er nichts. Wenn er nicht zu Terminen bei Ämtern muss, hängt er mit Freunden ab oder setzt sich in die S-Bahn, fährt durch Berlin. Am Südkreuz sieht er dann noch Graffitis von früher. Den Namen von seiner Crew zum Beispiel, in grün, blau und lila. Er selbst malt nicht mehr. Weil es ihm keinen Spaß macht, wenn es nicht illegal ist. Und weil illegal ja eigentlich das letzte ist, was Sven gerade sein möchte. Er zeichnet gut – sogar auf einfachem Kästchenpapier. Aber auch das ist ihm zu langweilig. Die angefangene Zeichnung zerknüllt er. Weil sie „nicht gut genug“ ist, weil er keinen Bleistift zur Hand hatte, mit dem man eigentlich zeichnen muss, damit die Schattierungen besser wirken.

„Reiß dich zusammen“, bat ihn sein großer Bruder vor kurzem. Das will er jetzt versuchen. Sagt er jedenfalls – zupft an seinem Pulli und schaut wieder zu Boden.

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