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In Meetings kommen Introvertierte häufig kaum zu Wort. Während sich die Extrovertierten die Bälle zuspielen, sind sie oft zu zaghaft.

© dpa

Charakter: Die Stärken der Introvertierten

Angela Merkel und Barak Obama gelten als introvertiert - auch Mark Zuckerberg und Joanne K. Rowling.

Theodor Geisel liebte die Ruhe. Der Mann, besser bekannt unter dem Pseudonym "Dr. Seuss", brauchte Stille und Einsamkeit, um seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Am besten konnte er das in der Abgelegenheit eines privaten Glockenturms in seinem Haus in La Jolla, Kalifornien. Dort erfand Geisel zum Beispiel den weltbekannten Weihnachtshasser "Grinch". Geisel war Kinderbuchautor – doch obwohl er Kinder liebte, war er wenig erpicht darauf, seine jungen Leser auch im realen Leben zu treffen. Der Schriftsteller hatte Angst davor, dass sie etwas von ihm erwarteten, das er nicht war, eine aufgeschlossene, quirlige, witzige "weihnachtsmannähnliche" Figur, wie er einmal sagte. Er wollte niemanden enttäuschen, denn Geisel war eine stille Natur, reserviert, vorsichtig. Das, was man gemeinhin als "introvertiert" beschreibt.

Merkel und Obama gelten als introvertiert

Der Autor ist damit nicht allein. Angela Merkel und Barack Obama gelten als introvertiert, ebenso wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und "Harry Potter"-Schöpferin Joanne K. Rowling. Doch was ist es, das sie auszeichnet? "Nach innen gekehrt", das ist die wörtliche Bedeutung von "introvertiert". Und diese Bedeutung, sagt Sylvia Löhken, lässt sich auch neurobiologisch nachweisen. Löhken, eigentlich Sprachwissenschaftlerin, befasst sich seit Jahren mit dem Thema und schrieb sogar ein Buch darüber. Sie bietet außerdem Coachings für introvertierte Menschen an. "Intros", erklärt sie, seien stärker vom Parasympathikus gesteuert – dem Bereich im vegetativen Nervensystem, der für Ruhe, Entspannung und Regeneration zuständig ist. Bei Extrovertierten hingegen sei der Sympathikus ausgeprägter, das "Gaspedal" des Gehirns. Er sei zuständig für "Aktion, Angriff und Flucht", sagt Löhken.

Es ist also keineswegs bloße Schüchternheit, die introvertierte Menschen zu dem macht, das sie sind. "Schüchternheit bedeutet die Angst vor sozialer Bewertung, da bewegen wir uns auf der Verhaltensebene", erklärt Löhken, "und an Verhaltensweisen kann man arbeiten". Ob jemand intro- oder extrovertiert sei, sei dagegen tief im Persönlichkeitskern verankert.

Diese Menschen verfügen oft über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe

Obwohl introvertierte Menschen oft falsch eingeschätzt werden – ihre Zurückhaltung kann als Kälte wahrgenommen werden, sie wirken womöglich verkopft, distanziert oder ängstlich –, haben sie zahlreiche Stärken. Dazu zählen für Löhken unter anderem Vorsicht, Einfühlungsvermögen, Beharrlichkeit und eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. "Felsen in der Brandung" seien sie oft und "ruhende Pole". Trotzdem stelle sich bei ihnen manchmal Überforderung ein: Insbesondere dann, wenn viele äußere Reize auf sie einprasseln, neigen Introvertierte zur Flucht – Konflikte und offene Auseinandersetzungen mögen sie nicht. Doch es wird zunehmend schwieriger, im Leben auf die "leise Art" durchzukommen. Schon in der Schule muss heute, wer gute Noten haben will, aktiv mit Wortbeiträgen am Unterricht teilnehmen. Ein Großteil der Schulstunden besteht aus Gruppenarbeiten. Dieser Trend zur Teamarbeit geht im Berufsleben weiter: "Großraumbüros, Brainstormings und Teamkonferenzen sind mit Sicherheit von Extrovertierten erfunden worden", glaubt Sylvia Löhken. Auch Stephanie Hollstein, psychologische Beraterin und Trainerin, spricht von einem Trend, der introvertierte Menschen zunehmend unter Druck setze: Im Job müsse man sich ständig gut verkaufen, oft gewinne dabei, "wer am lautesten schreit". Introvertierte hätten da häufig das Nachsehen. "Ich empfehle Firmen dann gern, Rückzugsmöglichkeiten für die Mitarbeiter zu schaffen, denn Introvertierte sind produktiver und kreativer, wenn sie in Ruhe und für sich arbeiten und nachdenken können", sagt sie.

Extrovertierte können Aufmerksamkeit meist schlechter abgeben

Trotzdem dringen viele Introvertierte gerade aufgrund ihrer typischen Eigenschaften in Führungspositionen vor – und bewähren sich dort. Ihre Erfolgsaussichten im Chefsessel hängen für Löhken ganz entscheidend vom jeweiligen Kontext ab, in dem sie arbeiten. "In einer delegierenden Führungsposition haben Introvertierte die Nase vorn", sagt sie. "Sie sind in der Lage, ihren Mitarbeitern mehr Eigenverantwortung einzuräumen, Aufgaben auch mal weiterzugeben." Für Extrovertierte sei das oft schwieriger: "Sie sind stärker auf das ‚Scheinwerferlicht‘ angewiesen, können Aufmerksamkeit schlechter abgeben. Das kann zum Nachteil werden."

Julia Beil

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