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Ruhig hier. Noch bündeln sich 80 Prozent des französischen Bahnverkehrs auf einem Drittel des Schienennetzes – die meisten Wege führen über Paris.

© Hans Lucas via AFP

Die Bahn kommt zu den Bürgern: Wie Frankreichs Provinz besser angebunden werden soll

In Frankreich sind ländliche Gebiete kaum erschlossen. Ein genossenschaftliches Projekt soll das ändern.

Man muss ein bisschen scrollen, bis man auf Google Maps zur nächstgrößeren Stadt um die französische Ortschaft Figeac gelangt. Etwas verloren liegt der Ort in der dünn besiedelten Region des Flusses Lot, etwa 200 Kilometer von Toulouse entfernt. Hier haben sich 2019 Nicolas Debaisieux und Dominique Guerrée in einem Holzatelier kennengelernt.

Debaisieux ärgerte sich über den schlechten Bahnverkehr auf dem Land und darüber, dass man ständig auf das Auto angewiesen ist. Seine Idee: Er möchte ein eigenes Eisenbahnunternehmen gründen und den Zugverkehr auf dem Land verbessern. Guerrées Antwort: „Ich bin dabei!“

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Zwei Jahre später, am 15. November 2021, rollt der erste Güterzug von Figeac nach Toulouse. Debaisieux ist inzwischen Geschäftsführer und Guerrée Vorsitzender des Verwaltungsrates von Railcoop – dem ersten genossenschaftlich organisierten Bahnunternehmen Frankreichs. Aus den 32 Gründungsmitgliedern sind mittlerweile fast 10.000 geworden. Dazu zählen Bürger:innen, Investoren und Zusammenschlüsse von Gemeinden – sogenannte „collectivités territoriales“. Sie alle eint das Ziel, den Bahnverkehr als CO2-arme Alternative im ländlichen Raum auszubauen.

Ende dieses Jahres möchte Railcoop – zusätzlich zum Güterverkehr – mit seinen ersten Personenzügen starten. Am 30. Dezember 2021 erhielt die Genossenschaft von den französischen Behörden die Genehmigung für sechs Strecken – darunter Lille-Nantes. Bereits zuvor war bekanntgeworden, dass Railcoop die Ost-West-Verbindung von Lyon nach Bordeaux wiederbeleben wird, Querverbindung wird schon seit 2014 nicht mehr vom staatlichen Bahnunternehmen SNCF befahren.

80 Prozent des Bahnverkehrs auf einem Drittel des Netzes

Stattdessen konzentriert sich die französische Bahn auf das Geschäft mit Hochgeschwindigkeitsstrecken zwischen Paris und anderen großen Städten. So bündeln sich derzeit ungefähr 80 Prozent des französischen Bahnverkehrs auf einem Drittel des Bahnnetzes. Immer mehr Bahnhöfe in ländlichen Regionen werden nicht mehr angefahren. Um heute von Lyon nach Bordeaux zu kommen, muss man zunächst nach Paris fahren und dort in einen TGV steigen. „Das ist nicht nur absurd, sondern auch wesentlich teurer“, erklärt Dominique Guerrée im Interview mit Tagesspiegel Background.

Der Anfang für ihn chaft alles andere als einfach: „Das war ein ziemliches Abenteuer.“ Der Rentner hatte bereits einige lose Erfahrungen in der Unternehmensführung durch seine Arbeit für eine genossenschaftlich verwaltete Solaranlage. Zudem hat der Geschäftsführer von Railcoop, Nicolas Debaisieux, 15 Jahre in verschiedenen französischen Ministerien und internationalen Organisationen gearbeitet. So richtige Experten im Bahnverkehr waren die beiden aber nicht.

Deshalb war die wichtigste Herausforderung für, ein kompetentes Team am Firmensitz in Figeac anzusiedeln. „Wir waren uns nicht sicher, ob die Menschen bereit wären, soweit raus aufs Land zu ziehen.“ Mittlerweile hat Railcoop mehr als 30 Angestellte. Einige Techniker und Zugführer sind sogar von der SNCF zu der Genossenschaft gewechselt. Auch war es nicht ganz einfach, eine ausreichende Finanzierung zu gewährleisten. Denn Bahnverkehr ist kostenintensiv.

Railcoop kaufte Züge aus dem Restbestand der SNCF

Railcoop hat sich Güterzüge geliehen und hat einen Großteil seiner Personenzüge aus dem Restbestand der SNCF gekauft – Second Hand sozusagen. Für die Nutzung des Bahnnetzes zahlt das Unternehmen eine Art Maut an die SNCF. Privatpersonen können schon ab 100 Euro Anteile am Unternehmen erwerben. Finanziert wird es aber vor allem durch die Beiträge von Gemeindeverbunden und Investoren. Alle Anteilnehmer sind in internen Verbänden organisiert und gleichermaßen an der Unternehmensführung beteiligt. Dadurch kommt es zu einem Interessenausgleich zwischen verschiedenen Teilhabern.

Genossenschaftlicher Bahnverkehr – eine Lösung für Deutschland? „Prinzipiell ist das eine begrüßenswerte Initiative“, sagt Bernhard Knierim, Sprecher des Bündnisses Bahn für Alle. Es setzt sich dafür ein, dass sich der Bahnverkehr in Deutschland stärker am Gemeinwohl orientiert. Das Netzwerk entstand 2006, um gegen den geplanten Börsengang der Deutschen Bahn zu protestieren. Bahn für Alle und andere Gruppen fürchteten, dass ein privat geführtes Bahnunternehmen sich zu sehr den Bedürfnissen des Marktes unterwerfen würde.

"Das Ziel muss Gemeinwohl und nicht Gewinne sein"

Schließlich wurden die Privatisierungspläne erst einmal nicht umgesetzt – auch wegen der Finanzkrise. Die Debatte über die passende Ausrichtung der Deutschen Bahn hat das jedoch nicht beendet. Für Knierim sollte sich der Bahnverkehr mehr am Fahrgastnutzen als an Profitfragen orientieren: „Das Ziel muss Gemeinwohl sein und nicht Gewinne.“ Railcoop versteht er daher als Vorstoß in die richtige Richtung. „Allerdings sollte der Staat nicht aus seiner Verantwortung entlassen werden“, sagt Knierim. Denn der Ausbau und die Instandhaltung des Schienennetzes seien letztlich hoheitliche Aufgaben von Bund und Ländern – zuverlässiger und bezahlbarer Regionalverkehr inklusive.

Für Knierim setzen Initiativen wie Railcoop trotzdem Impulse für den deutschen Bahnverkehr. So könnten Fahrgast-, Bürger- und Umweltverbände deutlich mehr Einfluss erfahren, als ihnen derzeit innerhalb der Deutschen Bahn zusteht. Davon ist im Koalitionsvertrag und bei den Reformplänen der Bahn bislang noch keine Rede. Wie wäre es dann also zunächst mit einer genossenschaftlichen Bahn von Frankreich bis nach Deutschland? „Ich glaube das wird noch ein bisschen dauern“, sagt Dominique Guerrée. Er freut sich erst einmal, dass sein Projekt so gut angelaufen ist. Jetzt hat er auch endlich wieder etwas mehr Zeit, um sein Holzatelier in Figeac zu besuchen.

Franz Paul Helms

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