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Hunderttausende Menschen gehen in Brasilien auf die Straßen. Auslöser war eine Fahrpreiserhöhung, doch längst richten sich die Proteste gegen die Ausgaben für die WM.

© AFP

Update

Ein Jahr vor der Fußball-WM: Brasilianer demonstrieren gegen Sport-Gigantismus

Rund ein Jahr vor der Fußball-WM in Brasilien demonstrieren dort hunderttausende Menschen gegen Korruption und die Milliarden-Ausgaben für den Stadionbau. Auch der Confederations-Cup wurde zum Ziel der Proteste.

Brasilien erlebt die größten Demonstrationen der letzten Jahrzehnte. In Dutzenden Städten und Gemeinden des riesigen Landes sind am Montagabend vor allem junge Menschen auf die Straße gegangen, um gegen eine Vielzahl von Missständen zu protestieren. Allein in Rio de Janeiro kamen nach konservativer Schätzung mindestens 100.000 Menschen zusammen. In Sao Paulo sollen es 65.000 gewesen sein. In der Hauptstadt Brasilia stürmten Demonstranten den Kongress, ohne dass die Polizei eingriff. Auch in anderen Städten, insbesondere in Rio, kam es im Anschluss an die Märsche zu Ausschreitungen. Die Angaben zur Gesamtteilnehmerzahl schwanken zwischen 250.000 und einer Million.

Nun macht der Begriff „Brasilianischer Frühling“ die Runde; ein anderer Slogan lautet „Brasilien ist aufgewacht“, womit auf di eher apolitische brasilianische Öffentlichkeit angespielt wird, die sich sonst nur zu Sport- und Musikereignissen mobilisieren lässt. Man könnte auch von Facebook-Revolution sprechen, weil die Proteste einzig über das Internet angekündigt wurden und es keine Organisatoren gibt.

Für die WM ist in Brasilien Geld vorhanden, nicht für Bildung und Gesundheit

Das übergreifende Motto der Demonstrationen lautet: Während der Staat für den aktuell stattfindenden Fifa Confederations Cup und die Fußball-WM 2014 umgerechnet mehr als 20 Milliarden Euro ausgibt, ist kein Geld für Bildung, Gesundheit und die öffentliche Infrastruktur da. Weitere Dinge, die immer wieder kritisiert werden, sind der starke Einfluss von Partikularinteressen auf die Politik, die frappierende Ungleichverteilung des Wohlstands sowie die Massenmedien – allen voran Globo TV –, die ein verzerrtes Bild der brasilianischen Wirklichkeit zeichnet. Auf dem massiven Demonstrationszug durch Rio de Janeiros Zentrum äußerten die Teilnehmer die unterschiedlichsten Interessen: Sie reichten von der Forderung nach einer Agrarreform bis zum Vorschlag, die historische Straßenbahn in Rios Viertel Santa Teresa wieder fahren zu lassen. Im Kern geht es wie bei allen Frühlingsbewegungen aber um mehr Demokratie und Transparenz im politischen Prozess.

Eine Fahrpreiserhöhung war der Auslöser der Proteste in Sao Paulo

Die Demonstrationen begannen vor einer Woche in Sao Paulo aus eher geringem Anlass: eine Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr um 20 Centavos (acht Cent). Als die Polizei mit Gummigeschossen, Knüppeln und Tränengas angriff, solidarisierten sich Tausende mit der Bewegung. Mit einem Mal war ein Ventil für das generelle Unwohlsein vieler Brasilianer da, die den Eindruck haben, ihre hohen Steuern werden nicht für dringende öffentliche Aufgaben aufgewendet. Denn während Brasilien sich nach Außen als kommende Supermacht präsentiert, fehlen in vielen Schulen des Landes Stühle und Tische; die Wartezeit in öffentlichen Krankenhäusern kann mehr als fünf Stunden betragen, der Nahverkehr ist trotz Tariferhöhungen vielerorts unsicher und schlecht. Zudem sind die Lebenshaltungskosten insbesondere in den Großstädten des Landes stark angestiegen, derweil die Qualität der Dienstleistungen und Produkte gleich dürftig geblieben ist.

Dass die Brasilianer in so großer Zahl auf die Straße gehen, hat alle überrascht

Dass die Brasilianer jedoch so zahlreich auf die Straße gehen würden, hat alle überrascht. Rio de Janeiros zentrale Avenida Rio Branco glich am Montagabend einem Menschenmeer, die Stimmung war stundenlang ausgelassen und fröhlich. Viele der Demonstranten, in der Mehrzahl zwischen 20 und 30 Jahre alt, hielten selbstgemachte Schilder hoch: „Entschuldigen Sie die Störung“, stand auf einigen, „wir verändern gerade Brasilien“. Die 27-jährige Psychologie-Studentin Sandra Rodrigues, die vor acht Jahren aus Angola eingewandert ist, singt mit Zehntausend anderen „Fifa, hau ab!“ und: „Nicht Türkei, nicht Griechenland – Brasilien regt sich“. Aus Bürohäusern werfen Angestellte Konfetti und werden von den Demonstranten bejubelt. „Wir sind die bewusste Generation“, sagt der 22-jährige Ingenieursstudent Leonardo Pinheiro, der sauer darüber ist, dass der Staat den Umbau des Maracana-Stadions mit umgerechnet 1,2 Milliarden Euro aus Steuergeldern finanziert hat und die Arena nun privatisiert wird.

Nach dem Ende der Demonstration zünden dann einige hundert Vermummte Autos an, versuchen das Landesparlament zu stürmen und verwüsten Banken. Polizisten sind über lange Zeit nirgends zu sehen. Globo-News überträgt die Krawalle minutenlang per Hubschrauberkamera.

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