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Kind mit Schwimmbrett im Wasser.

© Rolf Vennenbernd/dpa

Viele Kinder können sich nicht über Wasser halten: In Deutschland wächst eine Generation der Nichtschwimmer heran

Experten klagen, dass viele Viertklässler noch nicht einmal das Seepferdchen-Abzeichen haben. Die Coronakrise verschärft die Lage.

Die Bäder sind dicht, Zehntausende Anfängerkurse fallen aus, auch das Schulschwimmen ist in vielen Bundesländern zum Erliegen gekommen. Erzeugt die Corona-Pandemie eine Generation von Nichtschwimmern? „Die haben wir bereits“, sagt Achim Wiese, Sprecher der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG).

Aber jetzt nehme die Schwimmfertigkeit noch einmal einen heftigen Knick nach unten. „Das ist eine dramatische Entwicklung.“ Nach einer DLRG-Studie aus dem Jahr 2017 sind bundesweit 59 Prozent der Mädchen und Jungen keine sicheren Schwimmer, wenn sie die Grundschule verlassen. Ihnen fehlt das Jugendschwimmabzeichen in Bronze, 23 Prozent haben noch nicht einmal das Seepferdchen.

Auch der Deutsche Schwimmverband (DSV) schlägt Alarm. Nach dem TeilLockdown müssten die Bäder den Vereinen mehr Zeit für Schwimmkurse einräumen, auch an den Wochenenden oder in den Ferien, fordert DSV-Vizepräsident Wolfgang Hein. Schon vor der Pandemie gab es für Seepferdchen- oder Bronze-Kurse vielerorts lange Wartelisten.

Schutz vor dem Ertrinkungstod

Wichtig sei es, die ausgefallenen Kurse gründlich nachzuholen. „Es geht schließlich um den Schutz vor dem Ertrinkungstod.“ Auch die Politik sei gefordert. Seit dem 5. November ist das Schulschwimmen etwa in Niedersachsen komplett verboten. Laut einem Sprecher der Kultusministerkonferenz soll der Unterricht unter Wahrung der Abstands- und Hygieneregeln eigentlich stattfinden. Berlin erlaubt Schwimmunterricht bei Grundschulen, die im Corona-Stufenplan mit „Grün“, „Gelb“ oder „Orange“ bewertet werden, weiterführende Schulen schränken das Schwimmen ab „Orange“ ein. 26 Hallenbäder seien dafür derzeit geöffnet, so ein Sprecher der Berliner Bäder Betriebe.

Dass der Unterricht während des ersten Lockdowns von März bis zu den Sommerferien ausgefallen ist, war besonders schlecht für die Drittklässler, sagt Johanna Suwelack vom Landessportbund Berlin dem Tagesspiegel. „Gerade in dieser Zeit legen die Kinder ihr Schwimmabzeichen ab.“ Erst mit Bronze könnten sich Kinder sicher über Wasser halten und ihr Leben retten.

Im Sommer hat der Landessportbund Berlin gemeinsam mit dem Berliner Senat und den Bädern deshalb Schwimmkurse organisiert, an denen 3716 Kinder teilgenommen haben. „Das war ein Gemeinschaftswerk in kürzester Zeit, um zu verhindern, dass diese Kinder Nichtschwimmer bleiben“, sagt Suwelack.

Berlin bemüht sich um mehr Unterricht

Berlin bemüht sich seit langem, den Anteil der Nichtschwimmer unter den Schulkindern zu senken. Einer Erhebung der Senatsverwaltung für Bildung aus dem vergangenen Jahr zufolge beträgt die Nichtschwimmer-Quote unter Drittklässlern 16,6 Prozent. Vor sechs Jahren waren es noch drei Prozent mehr. Die Zahlen schwanken allerdings stark je nach Bezirk, in Neukölln ist die Rate mit 28,5 Prozent am höchsten, in Steglitz-Zehlendorf mit 9,6 Prozent am niedrigsten.

„Einige Kinder waren vor dem Schwimmunterricht noch nie mit ihren Familien im Schwimmbad“, sagt Suwelack. Der Landessportbund bietet deshalb kostenlose Herbstkurse für jene Kinder an, die beim Schulschwimmen nicht mitgekommen sind. Auch diese Kurse konnten unter den entsprechenden Hygienevorschriften stattfinden.

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In vielen Bundesländern sieht die Situation ganz anders aus. Weil der öffentliche Badebetrieb verboten ist, hätten bundesweit viele Kommunen und Betreiber ihre Bäder komplett dicht gemacht, klagt Wolfgang Hein, der auch Präsident des Landesschwimmverbandes Niedersachsen ist. Dabei seien dem Deutschen Schwimmverband keine Corona-Ausbrüche bekannt, die man auf Schwimmbadbesuche zurückführe. Im Juni öffneten viele Bäder wieder ihren Betrieb mit strengen Hygienekonzepten.

Keine Kurse angeboten

Aus Vorsicht werden an vielen Orten aber keine Seepferdchen-Kurse angeboten. „Bei uns liegt das Anfängerschwimmen seit März komplett still“, erzählt Manfred Hellmann, der seit 40 Jahren Schwimmtrainer im hessischen Marburg ist. „Im Wasser lassen sich die Abstandsregeln bei den jüngsten Kindern nicht durchhalten.“ 170 Kinder stehen ihm zufolge allein beim VfL Marburg auf der Warteliste. „Es ist ein Riesen-Stau angelaufen.“ Das Schulschwimmen könne die Defizite nicht auffangen, betont der Schwimmtrainer. „Da haben Sie über 20 Kinder im Bad für 40, 45 Minuten.“

In Achim bei Bremen halten die Mädchen und Jungen, die im Januar den Seepferdchen-Kurs im Hallenbad starteten, immer noch nicht ihr Abzeichen in Händen. „Viele Kinder sollten genau an dem Tag, als das Bad zum zweiten Mal dicht gemacht wurde, ihr Seepferdchen machen“, erzählt die Mutter von Alina (6) und Melissa (5). Ihre ältere Tochter sei sehr enttäuscht. „Jetzt wurde ihr auch noch ihr letztes Hobby weggenommen.“

Die jüngere sollte eigentlich im Kurs direkt nach Alina starten, doch jetzt muss sie im schlimmsten Fall anderthalb Jahre warten. „Mein Wunsch war eigentlich, dass die Kinder vor der Schule schwimmen lernen. Dann hat man auch im Urlaub und am Garten-Pool ein besseres Gefühl“, erzählt die 35-Jährige. „Das schaffen wir nicht mehr.“ (mit dpa)

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