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Einerseits sollen Pflegehelfer den Personalmangel in Heimen auffangen. Andererseits dürfen sie nur die einfachsten Tätigkeiten erledigen.

© Kitty Kleist-Heinrich

System in Not: Ein Pflegehelfer vor Gericht

Sie schrie erst später. Da hatte er sie längst in Eile abgeduscht, das Wasser lauwarm, so dachte er. Fünf Tage später starb die demente Frau an den Verbrennungen. Eine Stresssituation, sagt der Pflegehelfer vor Gericht. Sein Fall spiegelt ein System in Not wider.

Leicht war es nicht, die Frau zu fotografieren, wegen deren Tod er Monate später vor Gericht stehen sollte. Die Frau war alt, sie war verwirrt, sie drehte den Kopf weg, wenn er gerade auf den Auslöser drücken wollte, aber am Ende schaffte er es doch, ein Foto zu machen, das seinen Ansprüchen entsprach, „ein Bild, das in Würde glänzte“, wie er sagt. Etwa ein Jahr nachdem er sie fotografiert hatte, sieht er im Amtsgericht Tiergarten ganz andere Bilder von ihr – Bilder, auf denen sie weder Würde noch Glanz, sondern nur noch einen versehrten und entstellten Körper hat. Es sind die Bilder ihrer Leiche.

Sebastian F., 33 Jahre, arbeitete in einem Pflegeheim in Berlin-Lankwitz. Dort duschte er Margarethe W., 91 Jahre alt, so heiß ab, dass die demente Frau an den Verbrennungen starb. Das Gericht hat ihn gestern wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Der Fall zeigt einmal mehr, dass das deutsche Pflegesystem in Not ist. Auf der einen Seite alte hilflose Menschen, auf der anderen junge ungelernte Kräfte, überfordert von ihrer Aufgabe. Wenn man sie miteinander alleine lässt, kann das böse Folgen haben.

Von der Bundeswehr wurde Sebastian F. vergessen. Er meldete sich freiwillig, man versprach ihm, es werde bald losgehen, dann hörte er nie wieder etwas. Er wurde Gas- und Wasserinstallateur, Maler und Maurer und arbeitete bei McDonald’s. Eine prekäre Existenz, würden andere sagen, Sebastian F., der einen erweiterten Hauptschulabschluss hat, empfindet das nicht so. „Ich habe ganz normale Berufswege eingeschlagen.“ Er sitzt im Büro seines Anwalts in Charlottenburg. Für das Gespräch hat er einen Babysitter für seine Kinder, fünf und sieben, organisieren müssen, die Freundin hat Schichtdienst, er selbst ist blass. Zuletzt bezog Sebastian F. Hartz IV. Als er erfuhr, dass das Heim in Lankwitz einen Pflegehelfer suchte, war er froh. Nach den ersten Wochen dort sogar glücklich. „Toll, super, kannste weitermachen, habe ich gedacht.“

Es gibt in Deutschland viele alte Menschen, aber nur wenige, die sich um sie kümmern wollen. Derzeit fehlen bundesweit etwa 30 000 Pfleger, vor allem Fachkräfte mit einer dreijährigen Ausbildung. Deshalb stellen Heime Pflegehelfer ein. Allein die Berufsbezeichnung offenbart schon das Dilemma. Einerseits sollen Pflegehelfer den Personalmangel auffangen, andererseits sollen sie eigentlich nur die ganz einfachen Dinge erledigen dürfen, zum Beispiel Windeln wechseln, aber nicht einen wunden Po behandeln. Ihre Qualifikation ist in Deutschland seit 2004 nicht mehr einheitlich geregelt. In Hamburg werden sie zwei, in Hessen ein Jahr ausgebildet, in Berlin gibt es keine Vorgabe, viele Schulen bieten einen Kurs mit 200 Stunden an. Einige Heime stellen aber auch ganz ungelernte Leute ein. So wie das, in dem Margarethe W. starb.

Acht Minuten fürs Anziehen, fünf fürs Rasieren

Nur eine Woche währte das, was die Leiterin der Einrichtung vor Gericht „Einarbeitung“ nannte, Sebastian F. aber eher als „mal mitlaufen bei einer Kollegin“ empfand. Dann wurde er schon im dritten Stock bei den Dementen eingesetzt, 35 Stunden in der Woche allein mit bis zu elf völlig hilflosen Menschen waren keine Seltenheit. Dabei tickte die ganze Zeit die Uhr: Ein bis zwei Minuten haben die Pflegekassen fürs Aufstehen eines Menschen veranschlagt, drei bis sechs für Ausscheidung bei Stuhlgang, 20 bis 25 für eine Ganzkörperwäsche, acht bis zehn fürs Anziehen, fünf bis zehn fürs Rasieren, fünf fürs Zähneputzen und ein bis drei fürs Kämmen. Zeit für Beschwerden der alten Leute ist nicht vorgesehen, doch von denen erlebte Sebastian F. außerplanmäßig viele, und dann dauerte es länger, und dann beschwerte sich die Heimleiterin und sagte, er müsse schneller sein, dürfe aber auch die Pause nicht vergessen, und Sebastian F. machte gehetzt eine Pause und arbeitete dann weiter. Den Nächsten in den Rollstuhl, auf die Toilette, waschen, anziehen, Zähne putzen, Haare kämmen, rasieren und reden, reden nicht vergessen, alte Menschen brauchen ja Ansprache. Einmal betrat er das Zimmer eines alten Mannes und fand ihn bis zum Hals mit Kot eingeschmiert, auch die Wände waren voller Exkremente, danach war jeder Zeitplan sowieso dahin.

Und trotzdem mochte Sebastian F. seine Arbeit, einfach weil sie, so sagt er, „was mit Menschen“ war. Auch wenn er von seinem größten Hobby, der Fotografie, spricht, geht es nicht um Kunst, sondern um die Menschen, die er dabei kennenlernt. Architekturfotografie, sagt er, interessiere ihn nicht, „mit Häusern kann man nicht reden“. Mit alten Menschen dafür umso mehr, und wie er so dasitzt, im Büro seines Anwalts, am großen Konferenztisch, rechts und links viel Platz, den er auch braucht, weil er beim Reden so ausladende Gesten macht, kann man sich gut vorstellen, wie er morgens mit krachend guter Laune in die Zimmer trat.

Am liebsten ging er zuerst zu Margarethe W. Die anderen hatten ihn gewarnt, die schreit, die kratzt, die haut, doch ihm küsste sie manchmal sogar die Hand und sagte: „Ich mag dich“, einmal „ich liebe dich“. Trotzdem konnte man sich schon im nächsten Moment eine fangen, „aber das macht nichts“, sagt Sebastian F., „ich habe mich einfach auf das konzentriert, was schön war“. Im Haus erzählte man sich, dass die Frau, die nur noch im Rollstuhl saß – vor sich einen Tisch mit einem Kaffeebecher drauf, den sie einmal nach einer Pflegerin warf –, Akrobatin gewesen sei. Angehörige, die er hätte fragen können, hat Sebastian F. nie gesehen. Das einzige Bild in Margarethe W.s Zimmer zeigte sie mit einem Hund. Sebastian F. schlug vor, neue Fotos von ihr und den anderen zu machen, die Aufnahmen wurden dann an die Zimmertüren gehängt.

Die Feuerwehr kommt nicht - es sei ja kein Notfall

Am Nachmittag des 14. Juni 2013 sitzen alle Bewohner des dritten Stocks zusammen im Aufenthaltsraum. Sebastian F., der inzwischen seit einem Dreivierteljahr im Heim arbeitet, ist alleine mit ihnen. Im restlichen Haus mit seinen 40 Bewohnern sind sonst nur eine Pflegefachkraft und ein Pflegehelfer, von einer Leasingfirma geschickt. Wie immer gibt es Kaffee, die Bewohner trinken oder verschütten ihn, danach führt Sebastian F. sie einzeln auf die Toilette. Was dann geschah, berichtete Sebastian F. vor Gericht so: Margarethe W. habe Durchfall gehabt, und weil ihre Haut am Po dünn wie Pergamentpapier gewesen sei, das Klopapier ihm zu hart vorgekommen sei und Feuchttücher und Waschlappen wie so oft gefehlt hätten, habe er sich entschieden, sie untenherum abzuduschen. Mit der einen Hand habe er den Duschkopf gehalten und mit der anderen den Hebel des Wasserhahns, der in mittiger Position stand, nach oben gedrückt. Das Wasser sei ihm zu heiß erschienen, also habe er den Hebel nach rechts bewegt, wo er das kalte Wasser vermutete, und habe sie abgebraust. Zu schreien begonnen habe Margarethe W. erst danach. Die ausgebildete Pflegerin, die hinzugerufen wird, kann sich nicht erklären, was los ist. Sie sieht nur, dass die Haut am Po knallrot ist und sich in Fetzen ablöst, und ruft die Feuerwehr, doch die will nicht kommen, es sei ja kein Notfall. Sebastian F. liefert auch keine Erklärungen. Später, als Margarethe W. endlich im Krankenhaus ist, wird ein Arzt fragen: „Habt ihr sie auf eine Herdplatte gesetzt?“ Fünf Tage später stirbt die alte Frau. Die Polizeibeamten stellen fest, dass die Armatur falsch herum montiert war – wenn man den Hebel nach rechts drehte, kam das heiße Wasser, am Anschlag hatte es bis zu 59 Grad Celsius.

Die Heimleiterin will sich nicht äußern

Dass er die Temperatur nicht noch einmal kontrollierte, begründet Sebastian F. damit, dass er in einer „Stresssituation“ gewesen sei. „Ich wollte zu den anderen Bewohnern zurück.“ Auf die Frage, ob er wirklich nicht auf die Idee gekommen sei, dass es sich um eine Verbrennung handle, sagt er, ihm sei nie erklärt worden, wie so etwas aussehe. Eine Pflegerin sagte vor Gericht, sie habe manchmal, wenn sie Sebastian F. beobachtete, gedacht: „Das könnte ins Auge gehen“ – etwa wenn er ein Bett mit einem Bewohner drin viel zu weit nach oben fuhr. Aber die Heimleiterin habe ihr versichert, dass Sebastian F. voll eingesetzt werden könne als Pflegehelfer. Bei einem Termin im Heim will sich die Leiterin nicht äußern, „die Schotten sind dicht“, sagt der Mann, der laut Visitenkarte für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Fast wirkt er beleidigt. Wenn sie ein Fest machen würden, interessiere sich keiner, und nun stürzten sich alle auf das Heim. Er geht auf den Gang, wo ein Bild von einer Rose an der Wand hängt und es nach Kot riecht. „Wir tun doch auch gute Sachen.“ Eine alte Frau folgt ihm zum Ausgang. Sie beschwert sich, dass eine andere Bewohnerin stänkere, „ach, nicht immer stänkern“, sagt der Mann.

Deutschlands Pflegeheime befinden sich in einer für Unternehmen merkwürdigen Lage. Wie sie arbeiten, wie viel Geld sie bekommen, all das ist festlegt, zum Beispiel im Personalschlüssel, der das Verhältnis zwischen Bewohnern und Arbeitskräften regelt. Er darf nicht unter-, aber eigentlich auch nicht überschritten werden, zumindest bekäme es ein Heim nicht vergolten, wenn es mehr Pfleger einsetzen würde. Um profitabel zu sein, organisieren die einen ihren Einkauf zentral. Die anderen sparen vielleicht aber auch an gut ausgebildeten Pflegern.

Gabriel Hartmann wäre so einer. Er ist Pflege- und Rettungsassistent, studiert Sanitäts- und Rettungsmedizin und kann die Schulungen in seinem Leben kaum zählen. Heute unterrichtet er in der Landsberger Allee in Berlin neun angehende Pflegehelfer, Thema ist die Ganzkörperwaschung. „Bei sich selbst kann man das. Bei jemand anderem muss man jeden Handgriff neu erlernen“, sagt Hartmann, und deshalb liegt eine Schülerin angezogen auf einem Bett, eine zweite steht mit einem trockenen Lappen daneben – üben am lebenden Objekt. 26 Arbeitsschritte stehen auf dem Blatt, das Hartmann an seine Schüler verteilt hat, Nummer vier: „Wassertemperatur nach Wunsch des Bewohners, eventuell fühlen lassen“. Die Frau mit dem Lappen ist schon weiter, der Intimbereich ist dran, „Was machen Sie, wenn Sie am Po eine rote Stelle finden?“, fragt Hartmann. Die Frau zuckt mit den Schultern. „Unbedingt immer den Vorgesetzten informieren“, sagt Hartmann.

„Theorie und Praxis sind zwei Leute, die sich oft nicht gut vertragen“

Auch Sebastian F. hat sich, nachdem er vom Tod Margarethe W.s erfahren hatte und vom Lankwitzer Heim gekündigt worden war, zum Kurs bei Hartmann angemeldet. In den ersten zwei Tagen hatte er das Gefühl, in eine Rechtsvorlesung geraten zu sein. Ständig ging es um all das, was Pflegehelfer nicht dürfen, zum Beispiel jemanden mit Schluckstörungen füttern. „Pflegehelfer tun oft mehr, als eigentlich erlaubt ist“, sagt Hartmann. „Deshalb sage ich meinen Schülern immer: Leute, ihr steht mit einem Bein im Knast.“ Auch Sebastian F. hat, während er in Lankwitz gearbeitet hat, Menschen mit Schluckstörungen gefüttert. Auf die Frage, warum er das tat, sagt er: „Theorie und Praxis sind zwei Leute, die sich oft nicht gut vertragen.“ Er wollte seinen Job eben behalten, „da konnte ich doch nicht ständig ,mach ich nicht, will ich nicht, kann ich nicht’ sagen.“

In dem Heim, in dem er eine Stelle fand, nachdem er den Kurs absolviert hatte, wusste die Leiterin zum Glück selbst, was ein Pflegehelfer darf und was nicht. Auch sonst, sagt Sebastian F., sei der Job „Wahnsinn“ gewesen, und Wahnsinn in der Pflege heißt: Waschlappen, Feuchttücher und alles sonstige Arbeitsmaterial ausreichend vorhanden, jede Menge Schulungen und eine Chefin, die zu Weihnachten auch mal mitdekorierte. Sebastian F. gefiel es so gut, dass er hoffte zu bleiben, dieses Mal wollte er nicht nur die Bewohner, sondern auch seine Kollegen fotografieren. Vom Tod Margarethe W.s erzählte er nichts, „aber bei jedem Hahnaufdrehen habe ich den Gedanken daran“. Kurz nach dem ersten Prozesstag und einem Fernsehbericht, in dem er als „Burger-Brater“ bezeichnet wurde, bekam er seine Kündigung.

Nun ist Sebastian F. auf Hartz IV angewiesen und hat, wie er sagt, viel zu viel Zeit zum Fotografieren. Gerade hat er erfahren, dass er wieder Vater wird. Einen Job als Pfleger wird er wohl nicht mehr finden. Zwar wurde er nur zu einer Geldstraße von 60 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt und gilt damit als nicht vorbestraft, aber Heime fordern oft das erweiterte Führungszeugnis an, und dort ist die Verurteilung vermerkt. Im Schaukasten vor dem Pflegeheim, in dem Margarethe W. starb, hängt inzwischen ein neuer Zettel. Gesucht wird ein Pflegehelfer mit „Basisqualifikationskurs und Berufserfahrung“.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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