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Italien ein Jahr nach dem Erdbeben

© dpa

Wiederaufbau: L'Aquila ein Jahr nach dem Beben: Die Fassade stimmt

Zigtausende Menschen wurden obdachlos, hunderte starben, als am 6. April 2009 ein Beben die italienische Stadt L’Aquila zerstörte. Ein Jahr danach ist der erste Eindruck, dass die Katastrophe überwunden wurde. Aber die Bewohner sagen: Genau das ist das Problem.

Volles Geläut schallt über den Domplatz von L’Aquila, hallt von den Fassaden wider, scheint von allen Seiten zu kommen. Doch die Luken der großen Glocken in der Barockfassade der Arme-Seelen-Kirche gähnen leer. Wo die bis zum Morgen des 6. April 2009 hingen, halten massive Balken und gelb-rote Gurte die Mauern zusammen, dahinter verhüllt silbergraue Folie die Reste der eingestürzten Kuppel. Und was wie eh und je die Stunde schlägt, sind zwei Lautsprecher an der Seitenwand. Sie klingen zum Verwechseln ähnlich.

In den staubblinden Fenstern der Stehpizzeria „Tre Abruzzi“, wo hinter einem halb heruntergelassenen Rollladen die Einrichtung in Trümmern liegt, wirbt ein Plakat für die große Karfreitagsprozession im vorigen Jahr – zu der es nicht kam. Die Karfreitagsprozession 2009 fiel aus, weil am Montag zuvor um 3.32 Uhr die Erde gebebt hatte. Am Karfreitag 2009 beerdigte L’Aquila seine 308 Toten.

Aus einem Bar-Pavillon am Rand der historischen Altstadt dudelt Radiomusik. Unter der Wanduhr, die der Wirt absichtlich auf 3.32 Uhr hat stehen lassen, schlürfen ein paar Männer ihren morgendlichen Cappuccino. Der eine, ein junger, drahtiger Vertreter für Bergsport-Ausrüstung, sagt von sich, er sei der Einzige, der noch wohnt in L’Aquilas Altstadt, die bis zu jenem 6. April 30 000 Einwohner zählte: „Meines ist eines der zwei oder drei Häuser, die als teilweise nutzbar gelten“, sagt er und schüttelt den Kopf: „Aber drumherum …“

Der andere, Giovanni, ist ein kürzlich pensionierter Gemeindeangestellter und passionierter Hobbyfotograf. Er habe „jeden Winkel des alten L’Aquila, jeden historischen Torbogen, jedes Fresko“ abgelichtet, sagt er. Tausende von Fotos, alle gerettet, aber unerreichbar in einer verschütteten Garage. Falls er sie je wiederbekommen sollte, sagt Giovanni, überlege er, sie zu verbrennen. Ins Stadtzentrum jedenfalls gehe er nicht mehr. „Da packt mich die Angst, und mir kommt das Heulen.“

In die Bar kommen an diesem Vormittag vor ein paar Tagen immer mehr Männer, und alle sind sich einig: In L’Aquila geht nichts voran. Nicht einmal der Schutt wurde aus den Straßen geräumt!

Irgendwann haben die Bürger dann selbst angepackt. Das war die Episode, die als „Aufstand der Schubkarren“ in die 750-jährige Geschichte der Bergstadt eingehen dürfte. Bürgerkomitees, voller Zorn über die Untätigkeit „des Staates“, hatten zur Mithilfe aufgerufen, es wurden Menschenketten gebildet, um mit Schaufeln und Schubkarren Trümmer aus den Gassen zu holen. 4,5 Millionen Tonnen sollen dort insgesamt liegen.

Und dafür hetzte man ihnen dann die Polizei auf den Hals, schimpfen die Männer in der Bar. Die Bürger durften nämlich nicht in die Altstadt; diese ist als „Rote Zone“ abgeriegelt. Und die bisher letzte Aufräumaktion sollte auch noch gleichzeitig mit den Regionalwahlen am vergangenen Sonntag stattfinden. Die Behörden fühlten sich provoziert, erklärten die Räumkolonne zu einer „politischen Demonstration“, die an Wahltagen verboten sei – und die Polizei beschlagnahmte ein Dutzend Schubkarren.

Aber ist denn L’Aquila nicht aufgeräumt? Flanieren nicht draußen auf dem blitzsauber gekehrten Corso Vittorio Emanuele, der einstigen Einkaufsmeile, schon wieder die Menschen – wenn auch vor leeren Schaufenstern und unter jenen Tausenden von Balken und Stahlstangen, die so viele Häuser aufrecht halten? Hat nicht die Besitzerin einer wieder geöffneten Traditionskonditorei erklärt, jetzt endlich, aufgrund der Katastrophe, strömten die Touristen herbei, die man zuvor vergeblich versucht habe anzulocken?

Da lachen die Männer an der Bar höhnisch. „Das ist der Eindruck, den die Politiker übers Fernsehen vermitteln wollen. Es soll so aussehen, als sei in L’Aquila alles unter Dach und Fach. Ein paar Straßen haben sie freigeräumt. Aber die ,Rote Zone‘ zeigen sie niemandem.“

Einer der Gäste aus der Bar, ein Arzt, hat dort gewohnt, wo seit einem Jahr die „Rote Zone“ ist. Sein Haus steht am Ende einer Gasse, die von Touristen häufig fotografiert wird, weil in ihr zwei üppig blühende Kirschbäume leuchten. In der Fassade des Gebäudes, in dem Platz für zehn Familien war, sind nur ein paar Risse, genauso wie bei so vielen anderen Häusern in der Altstadt. „Das war eben das Verrückte am Beben von L’Aquila“, sagt der Mann. „Die Fassaden lassen auf keine Katastrophe schließen.“ Die wird erst dahinter sichtbar. Zerborstene Wände, abgestürzte Stiegen, Möbel, die von einem Appartement ins andere geschleudert worden sind, Betontrümmer, Ziegelsteine überall, heute genauso wie am Tag des Bebens. „Nein, noch schlimmer“, sagt der Mann, „es krachen ja immer wieder Steine herunter; der Bau verfällt täglich mehr. Es tut keiner was dagegen. Und die Fernsehkameras halten immer nur auf die Fassaden.“ Das ergebe ein schrecklich falsches Bild.

67 000 Menschen hat das Erdbeben in den Abruzzen obdachlos gemacht; an die 20 000 Häuser gelten amtlich als unbewohnbar. Zwar könnten andere 37 000 Gebäude sofort wieder bezogen werden, weitere 11 000 nach Reparaturen, aber die Aquilaner spotten über „so viel Theorie“: Die als „bewohnbar“ geltenden Häuser haben häufig weder Gas, noch Strom, noch Wasser, weil die Netze kaputt sind, „und so lange der Schutt herumliegt“, sagen sie, „kommt auch keiner an die Leitungen heran, um sie zu reparieren“. Die Bewilligungen zur Renovierung von 8900 Häusern, erzählt der Arzt, hingen „in der Bürokratie“ fest. Und an den Sperrgittern zur „Roten Zone“ haben Hunderte von Aquilanern als Zeichen von Protest und Kapitulation die Schlüssel ihrer Häuser gehängt: nutzlos, sie alle.

Doch dass alle, die obdachlos geworden waren, wieder ein Dach über dem Kopf haben – wenn auch für die nächsten zehn Jahre nicht das eigene –, das rechnen die Aquilaner der Regierung Berlusconi durchaus als Verdienst an. Noch sind in den Hotels an der nahen Adriaküste 4600 Bebenopfer untergebracht, weitere tausend in Kasernen. In den mehr als 40 verwüsteten Gemeinden des „Erdbebenkraters“ wurden provisorische Holzhäuser für 5000 Menschen gebaut.

Doch es gibt um die Regierungsmaßnahmen auch Streit. Der dreht sich um jene hochmodernen Niedrigenergiehaussiedlungen, die – auf erdbebensichere Spezialpfeiler gesetzt – rund um L’Aquila in Rekordzeit entstanden und bereits etwa 15 000 Menschen aufnahmen. „2800 Euro kostet da der Quadratmeter“, schimpfen sie in der Stadt, „dafür kann man sich locker in einen Schicki-Micki-Skiort der Dolomiten einkaufen“. Der Arzt gibt eine weit verbreitete Meinung wieder; er sagt, des „Show-Effekts“ wegen habe „diese Macher-Regierung da bereits jetzt so viel Geld verschleudert, als sei L’Aquila schon wiederhergestellt“. Jetzt fehle das Geld sogar für die nötigen Stabilisierungen in der Altstadt. Mit der Konsequenz, dass die Menschen dort vorerst nicht leben könnten.

Das historische Zentrum, klagen Kunsthistoriker und Denkmalschützer aus ganz Italien, werde auf Dauer entleert und geopfert. Und die Menschen vor der Stadt, die wissen nicht, ob sie zufrieden sein sollen oder nicht.

Um die 19 Neubausiedlungen sprießt der erste Rasen, auf nagelneuen Spielplätzen schaukeln die ersten Kinder, „aber die Wohnungen sind so klein“, klagen die Mütter. Soziale Treffpunkte, wie Bars oder eine italienische „Piazza“, sind bei den Planungen vergessen worden, Supermärkte weit weg. „Wir leben in riesigen Schlafstädten“, sagen die Frauen. „Alle früheren Nachbarschaften sind auseinandergerissen, die Familien genauso, und bis zur nächsten Siedlung fährst du mit dem Auto um die ganze Stadt herum. Einmal abgesehen davon, dass viele von uns mit dem Erdbeben ihren Job verloren haben und wir nicht wissen, ob wir jemals wieder einen kriegen.“

Und auch draußen auf dem Land fühlt man sich ungerecht behandelt, da, wo mal die Dörfer Castelnuovo und Onna lagen. Beide sind am 6. April 2009 komplett zerstört worden. In Ersatzdörfern am Südrand des Bebenkraters werden erst jetzt die großzügig ausgestatteten Holzhäuschen fertiggestellt, die „spätestens zu Weihnachten“ versprochen waren. Monteure installieren reihum letzte Waschmaschinen; an den Türen, hinter denen alles fertig ist – und die Flasche Sekt im Kühlschrank liegt, wie Berlusconi es versprochen hat –, klebt Kreppband mit dem Filzschreiber-Vermerk „OK“. Die auf Adriahotels und Kasernen verstreuten ehemaligen Dorfbewohner können jetzt einziehen. In ihre neuen Häuser, die alle den Blick freigeben auf den Hügel gegenüber, auf die unverändert daliegenden Trümmerberge ihres früheren Dorfes. Das sei brutal, jeden Tag wieder, sagt eine Frau, die schon in „Castelnuovo 2“ wohnt. Das mit dem anderen Dorf, mit Onna, seufzt sie, das sei „eben doch eine eigene Geschichte“.

Onna, das am leichtesten erreichbare und am häufigsten im Fernsehen gezeigte Dorf, hat gleich nach dem Erdbeben Paten gefunden, mehr als alle anderen zusammen. Die Deutsche Botschaft erinnerte beschämt an ein bisher ungesühntes Nazi-Kriegsverbrechen, sammelte Geld – sechs Millionen Euro vom Bund, von der Industrie und aus Privatspenden –, schickte das Technische Hilfswerk. Das Rote Kreuz kümmerte sich um Onna, und die italienische Alpenregion Trient griff ein. Und so verbrachten die 240 Onneser die Zeit bis zur Wiederherstellung ihres Dorfs nicht wie die anderen Bebenopfer in düsteren Barackenstädten, sondern in einer pastellbunten, schmucken Fertighaussiedlung mit sattgrünen Rasenflächen und geschwungenen Kieswegen, mit Tischen und Bänken, mit Tulpen, Gartenzwergen, so unbeschwert in die Landschaft gesetzt, als wär’s ein Feriendorf in den Alpen, den Panoramablick auf strahlend schneeweiße Berge eingeschlossen.

Zwar fahren auch die Onneser jeden Tag am Eingang zu ihrem alten Dorf vorbei. Aber vom Anblick der Ruinen schützt sie ein Holzzaun. Und sie sind im gesamten Krater die Einzigen, die wissen, dass ihr Dorf tatsächlich auferstehen wird. Diesen Dienstag, genau ein Jahr nach dem Beben, legt der deutsche Botschafter, Michael Steiner, den Grundstein für das neue Gemeindezentrum. Er tut das um 4.32 Uhr – zum Zeichen, dass zumindest diese kleine Welt nicht bei 3.32 Uhr stehen bleibt.

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