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Karim Ainouz

© Karim Ainouz: Anjo Wu Wu

Filmemacher Karim Aïnouz: „Wir leben in einer Zeit, in der wir die falschen Feinde bekämpfen“

In der Kreuzberger Daad-Galerie ist ab Freitag die Ausstellung „Blast!“ von Karim Aïnouz zu sehen. Ein intimer Einblick in das Leben und die Arbeit des Berliner Regisseurs, Drehbuchautors und Künstlers.

Die Daad-Galerie in der Kreuzberger Oranienstraße ist in warmes Gelb getaucht, die bodentiefen Fenster sind mit einer semitransparenten Folie in genau dieser Farbe abgeklebt. Der Blick nach innen wird den Passierenden verwehrt, für Besucher:innen hingegen wird das Außen zur schemenhaften Kulisse. Es könnte sich um einen Filmausschnitt von Karim Aïnouz handeln, der hier ab Freitag ausstellt – lebensnah, fast schon dokumentarisch und dennoch durch seine unverwechselbare Bildsprache gefiltert.

Anfang der Woche empfängt der Filmemacher zum Gespräch und Rundgang durch die Ausstellung. Bei einer Zigarette gibt er einen Überblick und ordnet ein. Seine Arbeiten als bildender Künstler seien den wenigsten bekannt, auch deshalb sei es ihm wichtig, sein filmisches Schaffen in die Ausstellung, die den Titel „Blast!“ trägt, zu integrieren, sagt er.

„Blast!“ ist keine Retrospektive, und irgendwie doch: im goldgelben Eingangsbereich ist sein über Jahrzehnte gewachsenes Bildarchiv prominent platziert. An zwei gegenüberliegenden Wänden werden Fotografien mittels einer Reihe von Dia-Projektoren an die Wände geworfen. Bilder, die Aïnouz zu seinen Filmen inspirieren, Bilder, die in seinen Filmen vorkommen und Bilder, die private Einblicke in das bewegte Leben des Wahlberliners geben. Es fühle sich seltsam an, diese Einblicke zu präsentieren, erzählt er: „Als würde ich mein Wohnzimmer der Öffentlichkeit zugänglich machen“. Aber auch viele Aspekte seines filmischen Werks behandeln persönliche, intime Erfahrungen. „Es ist also Teil meiner Arbeit, mein Leben die mit der Öffentlichkeit zu teilen“.

Im Unterschied zu seinen Ausstellungen, schaue er sich seine Filme nach der Fertigstellung nie wieder an: „Ich denke immer, sie könnten besser sein. Wenn man einen Film dreht, sind viele Leute involviert und trotzdem teilt man sehr intime Momente. Man plant, welche Szene lustig und welche Szene traurig sein soll, ob das dann aufgeht, will ich nicht wissen. Ich lasse los“. 

Dass die Ausstellung ausgerechnet hier passiert, ist kein Zufall: Ein Stipendium des Künstlerprogramms des „Deutsche Akademische Austauschdienst“ 2004, war der Grund, warum der gebürtige Brasilianer mit algerischen Wurzeln, der bereits in New York und Paris lebte, vor über 20 Jahren Berlin als seinen Lebensmittelpunkt wählte.

Seine Liebe für die Stadt und insbesondere Kreuzberg, entstand schon früher: „Als ich 1985 Berlin zum ersten Mal besucht habe, las ich einen Roman eines brasilianischen Autors, der Kreuzberg als diesen verrückten Ort am Rande der Grenze zu Ost-Berlin beschrieb. Ich hatte Kreuzberg als anarchisch und frei abgespeichert und dann auch so kennengelernt“. Weil die Mieten zu teuer waren, zog er zunächst nach Neukölln.

Über Identität zu sprechen ist wichtig, sie zu überwinden noch mehr

Auch der zweite Raum der Galerie ist abgeschirmt, dieses Mal jedoch mit Plastikbahnen, wie sie vor Kühlräumen hängen. Die dominierende Farbe ist hier ein kühles Blau. Gezeigt werden Ausschnitte und nicht verwendetes Rohmaterial seiner Filme „Sunny Lane“ (2011) über die Neuköllner Sonnenallee und „Zentralflughafen THF“ (2018).

Letzterer hatte 2018 auf der Berlinale Premiere und dreht sich um das Flughafengebäude in Tempelhof, das zum Entstehungszeitpunkt der Dokumentation erstmals als Flüchtlingsunterkunft genutzt wurde. Sie gehört zu den vier Filmen, die im Rahmen der Ausstellung im nahegelegenen Fsk-Kino laufen

Im dritten Raum werden die Besucher:innen mit Text konfrontiert. Das 2023 entstandene Werk „Brighter than Sun“ zeigt den Monolog eines in Frankreich lebenden Algeriers, der sein Sehvermögen verliert. Er war in Algerien, zur Zeit der französischen Atombomben-Experimente, und erlebte die Explosion in der Sahara, die drei bis viermal so stark wie die von Hiroshima war und für die sich Frankreich bis heute nicht entschuldigt hat.

Der Mann besucht einen Psychoanalytiker, und muss am Ende einer Sitzung erfahren, dass der Vater des Psychoanalytikers, die Explosionen zu verantworteten hatte. Die Erzählung entstammt Aïnouz’ Fantasie und soll irgendwann vielleicht tatsächlich verfilmt werden.

Das Fotografieren ist der Versuch, Erinnerungen physisch haltbar zu machen

Subtil vermittelte politische Botschaften ziehen sich durch Aïnouz’ Œuvre, das dennoch selten pädagogisch wird. Aïnouz interessiert sich mehr für Individuen als Identitäten, es ist ihm ein Anliegen, dass die Geschichte des Einzelnen gehört wird.

Er habe Brasilien verlassen, weil er schwul ist. Als Teenager habe er in Frankreich gelebt, was wegen seines arabischen Namens hart war, dann habe er in New York gewohnt, wo niemand wirklich verstanden hat, woher er komme, erzählt er. Alles Teilaspekte, die seine Arbeit beeinflussen.

Mit dem queeren Klassiker „Madame Satã“ feierte Karim Aïnouz 2002 seinen Durchbruch. Der Film behandelt die Geschichte Dragqueen Madame Satã im Rio de Janeiro der 1930er-Jahre.

© Walter Carvalho

Und dennoch: „Man muss kein Psychopath sein, um einen Film über Psychopathen zu drehen, aber natürlich sei die Diskussion ein bisschen komplizierter. In seinem Film „The Invisible Life of Eurídice Gusmã“ (2019) beispielsweise, wird die Geschichte zweier ambitionierter Schwestern im Rio de Janeiro der 1950er Jahre erzählt, die nach Unabhängigkeit streben, durch die patriarchale Gesellschaft jedoch Unterdrückung erfahren.

Ihm ist es wichtig, über Identitäten zu sprechen, diese aber auch zu überwinden. Er sei das Kind gewesen, das von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen wurde, was besagten Film autobiografisch mache, obwohl ihm ein Roman zugrunde liegt. Und auch wenn er ein Mann ist, könne der Film also eine feministische Perspektive zeichnen, vom Drehbuch, über die Kamera bis zum Schnitt hatten ausschließlich Frauen das Sagen: „Ich bin an Allianzen interessiert und denke, dass wir in einer Zeit leben, in der wir die falschen Feinde bekämpfen“, sagt Aïnouz.

Zum Film kam der studierte Architekt Aïnouz über die Fotografie und zur Fotografie wiederum fand er aus Angst, sein Augenlicht zu verlieren: „Ich habe ein Problem mit meiner Hornhaut und es gab einen Zeitpunkt, an dem ich dachte, ich werde blind“. Das Fotografieren war sein Versuch, die Erinnerungen physisch haltbar zu machen. Ein Versuch, von dem die Welt profitiert.

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