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Dita Zipfel ist mit ihrem Debüt „Wie der Wahnsinn mir die Welt erklärte“ für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert.

© Julia Hoße

Vorlesegeschichte: Mein Sommer mit Ali

Was, wenn du mit acht Jahren die Freundin fürs Leben findest, aber das Universum dagegen ist? Eine Kindergeschichte

Ich sehe ein bisschen aus wie sie. Zwar sind die Leggins zu kurz und mein Bauch spitzt unter dem Pulli hervor, aber wenn man das ignoriert, und ich meine Hand so ausstrecke, dass ich mein Gesicht im Spiegel nicht sehen kann, dann könnte ich sie sein. Ich rieche auch wie sie. Weil, das war der Deal, eine Woche lang hatte sie jeden Tag diesen Pulli und diese Leggins an, Tag und Nacht, bevor sie die Klamotten in den Karton getan hat, zu all den Büchern, Fotos, dem Armreif und den anderen Sachen, die sie mir zum Abschied geschenkt hat.

Ihre Unterhose zwickt. Ich bin viel größer als sie, die Größte in der Klasse. Sie ist mir gleich aufgefallen, als ich letzten Sommer neu in die Klasse kam. Aber nicht nur, weil sie die Kleinste war, sondern weil ihre Augen so anders sind als alle Augen, die ich je gesehen habe. Mandelaugen, dachte ich, als ich sie das erste Mal sah, weil das ein Wort ist, das ich mal gehört hatte und weil ihre Augen hellbraun sind, so, Mandelmusbraun.

Mein Knöchel schmerzt, meine Augen brennen

Gerade noch bin ich gerannt, so schnell ich konnte. Mein Knöchel schmerzt vom Stolpern und meine Augen brennen. Wahrscheinlich vom Wind. Vielleicht von den Auspuffgasen. Wir hätten uns an den Fingerspitzen berühren können, wenn nicht die Scheibe gewesen wäre, so dicht war ich an Suses kleinem dunkelblauen Auto dran. Dann hätten wir die Zeigefinger ineinander verhakt, ganz fest, und ich wäre immer schneller gelaufen, so wie das Auto immer schneller geworden ist. Und irgendwann wären meine Füße vom Boden abgehoben, ich wäre weitergelaufen, aber jetzt in der Luft, wie eine Comicfigur überm Abgrund. Und dann hätte ich wie eine Fahne am Auto gehangen, unsere Arme die Fahnenstange. Von hier bis nach Berlin.

Suse ist die Mama von Ali und Ali ist die Besitzerin der Unterhose und die Unterhose ist jetzt bei mir, aber Ali nicht mehr.

Ein Jahr hat 365 Tage. Was passiert am 366. Tag, wenn 365 Tage lang das gleiche passiert ist? Jeden Tag Ali und ich.

Als Kind kann man nichts entscheiden

Suse hat entschieden, und Ali muss mit. Sie kann nicht hierbleiben, obwohl sie will. Ist nämlich so, als Kind kann man nichts entscheiden. Höchstens vielleicht, was man anzieht, aber auch das nur, wenn es nicht gerade zu kalt oder Großvaters Geburtstag ist. Das hat was mit „minderjährig“ zu tun. Das ist jedes Kind, minderjährig, und deswegen darf man nichts und muss alles, was andere entscheiden. Wir wissen das, seit wir diese eine grandiose Idee hatten. Wir hätten nicht fragen sollen.

„Das geht nicht, ihr könnt nicht einfach einen Laden aufmachen.“

„Aber warum nicht, ihr baut das Lehmhaus nie zu Ende, und die Mauer ist perfekt als Verkaufstresen!“

„Wir gehen auch weiter zur Schule, wir öffnen nur nachmittags!“, sagte ich und hoffte, es würde helfen.

„Böttööö, Mama, wir machen alles alleine, du musst nur einmal mit uns diese großen Plastikdosen mit Gummizeug kaufen gehen.“

„Das geht nicht, das ist verboten. Wenn das jemand mitkriegt!“

„Hä, aber warum?“

Weil wir minderjährig sind. Deswegen würde die Polizei kommen und uns alles wegnehmen und vielleicht jemanden einsperren, wahrscheinlich nicht uns, eben weil wir minderjährig sind, aber vielleicht Suse. Und das wollten wir nicht. Jetzt denke ich, wenn die Polizei Suse eingesperrt hätte, wäre Ali noch hier.

„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“ Wir liefen in Alis Zimmer im Kreis und brüllten. Wir hielten Plakate in die Höhe, auf denen „Stop global warming!“ stehen würde, wenn eine von uns gewusst hätte, wie man das richtig schreibt. Ich wusste nicht mal, was genau „Demo“ hieß, aber wenn man schon brüllt, kann man nicht mehr fragen.

„Komm, wir spielen Demo“, hatte Ali gesagt und ich „Au ja!“, als wüsste ich, wie das geht. Dann hatte ich einfach alles nachgemacht, was sie gemacht hatte – leere Plakate hochhalten, brüllen, stampfen – und dabei gehofft, sie würde nicht merken, dass ich mit allem ein paar Sekunden langsamer war als sie. Weil ich ja erstmal gucken musste.

Wir kennen uns aus, wir wissen, was gut ist

Wenn die Sache mit dem Laden geklappt hätte, könnte ich sie wenigstens besuchen. Wir hätten in den letzten Wochen ordentlich Kohle gemacht, in der Straße wohnen mindestens zwölf potentielle Kunden. Und es hätte sich natürlich rumgesprochen, dass es bei uns nur das Beste vom Besten gibt. Wir kennen uns aus, wir wissen, was gut ist. Sowas wie Lakritzschnecken hätte es bei uns niemals gegeben. Die haben zwar eine gute Form, kann man einiges mit machen, aber geschmacklich? Hm. Reicht nicht. Aber weil man sein Geld nicht ehrlich verdienen darf, wenn man minderjährig ist, überlegten wir uns etwas anderes.

„Postbetrug“, sagte Ali.

„Au ja!“, sagte ich. „Und, äh. Wie?“

„Wir sammeln Briefmarken. Das ist bares Geld!“

„Okay?“

„Wir schreiben uns Briefe, kriegen Briefmarken von unseren Eltern, kleben sie aber nicht drauf. Jede schreibt, sagen wir, drei Briefe die Woche, ein Brief achtzig Cent, macht zweivierzig die Woche! In zehn Wochen kannst du mich besuchen kommen!“ Sie strahlte mich an. „Was guckst du denn so, willst du nicht?“

„Doch klar. Aber, das heißt dann ja, dass wir Briefe schreiben und die nie ankommen.“

„Nee, das ist ja der Betrug! Wenn der Postbote denkt, och süß, den Brief hat bestimmt ein kleines dummes Kind verschickt, dann bringt er den Brief trotzdem! Für umsonst!“

Immerhin haben wir einen Plan

In den letzten drei Wochen vor ihrem Umzug haben wir uns zehn Briefe geschickt. Als Test. Die Adresse haben wir in Kleinkindschrift geschrieben, voll viele Fehler und so. Und keinen Absender, klar, sonst kann man das ja nachverfolgen. Hat jedes Mal geklappt! Klar, war nur hier im Dorf, Luftlinie dreihundert Meter vielleicht, aber trotzdem. Immerhin haben wir einen Plan.

„Ich hasse meinen Namen“, sagte ich. Wir saßen auf dem Dach vom Punkhaus und aßen Kirschen. Ali und ich spuckten gleichzeitig die Kerne aus. Meiner flog weiter. Man hörte das Klicken, als er auf dem Asphalt aufkam.

„Ich meinen auch“, sagte Ali und griff nach der nächsten Kirsche. „Ich hätte gerne einen Doppelnamen. Ich liebe Doppelnamen. Mit Bindestrich. Ich liebe Bindestriche.“

Das fand ich so toll an Ali: Sie wusste genau, was sie wollte. Und meistens Sachen, auf die ich nie gekommen wäre.

„Ich hätte gerne einen Namen, zu dem es ganz viele Spitznamen gibt.“ Ich spuckte einen Kern, „Katharina. Oder so.“

„Okay“, sagte Ali und spuckte ihren Kern, er landete auf dem Dach und kullerte langsam herunter. Sie sprang auf und kletterte vom Punkhaus. „Lass machen!“

Das Punkhaus war kein Haus, sondern ein VW-Bus, aber das Wichtigere ist: Er war unserer. Er stand ausrangiert auf dem Hof der WG, in der Ali gewohnt hatte, bevor ihre Mama sie in ein Umzugsauto nach Berlin gesteckt hatte. Er hatte nur zwei Sitze und eine rostige Ladefläche, aber er war unsere Zentrale. Niemand durfte rein, wenn wir nicht wollten. Niemand durfte auf dem Dach sitzen und Kirschen essen, nur wir. Wir haben ihm seinen Namen gegeben. Punk, weil das irgendwie cool war und Haus, weil er das war: unser Haus. In den letzten Wochen mit Ali haben wir fast jede Nacht im Punkhaus geschlafen. Wir hatten die Ladefläche gefegt und eine Matratze runtergeschleppt. Es gab nur einen Schlafsack, das war genug. Wir hatten alles, was man braucht: Bücher, Kopfhörer, MP3-Player, Fanta, Teelichter.

„Nimm mal“, sagte Ali und reichte mir zwei Zettel und zwei Stifte hoch. Dann kletterte sie zu mir aufs Dach.

„Du heißt ab jetzt Katharina. Und ich heiße Alessia-Louise, fertig, aus. Aber wir brauchen noch Spitznamen. Weil man sich Spitznamen nicht selbst geben kann, such ich dir deinen und du mir meinen aus. Außerdem brauchen wir eine Taufe. Dafür braucht man eine Taufurkunde, auf der alles steht. Und Taufwasser.“

Ich ging die Fanta holen.

Irgendwann wird der Geruch schwächer

Wie lange speichert Stoff Geruch? Jetzt, in diesem Moment, liegt die Kiste, die ich Ali gegeben habe, bei ihr auf der Rückbank, Deckel drauf. Im Moment verbreiten mein Rock, mein Pulli, meine Strumpfhose, meine Unterhose und mein T-Shirt meinen Geruch nur in dieser Kiste. Aber wenn Ali sie in ihrem neuen Kinderzimmer auf den Boden stellt und den Deckel abhebt, dann müssen sie den Geruch im ganzen Raum verbreiten. Das schaffen sie vielleicht ein paar Stunden, immerhin hatte ich die Sachen eine Woche Tag und Nacht an, aber dann werden sie immer schwächer.

Irgendwann kann Ali mich nur noch riechen, wenn sie ihre Nase tief in meinen Pulli steckt und dann nur noch, wenn sie mein T-Shirt zusammenknüllt und daran schnuppert, und am Ende nur noch, wenn sie sich richtig doll konzentriert. Und dann? Dann geht sie jeden Tag in ihre neue Schule und andere sehen ihre Mandelmusaugen und fangen an, sie zu Hause zu besuchen und verbreiten Geruch in ihrem Zimmer und klettern auf ihr Hochbett und schlafen bei ihr. Sie hören unsere Musik und Suse bringt ihnen Honigbrote und dann bin ich weg.

Ihr seid noch so jung, ihr werdet noch viele beste Freundinnen haben, hat meine Mama gesagt. Aber das ist Quatsch. Viele Beste gibt es nicht. Viele Gute, ja, vielleicht sogar Bessere als Gute. Aber beste Freundin heißt: eine. Die Beste.

Langsam goss ich Fanta über Alis Stirn

„Hiermit schwöre ich feierlich“, sagte ich ein bisschen zu laut und hielt die Taufurkunde vor mich in die Luft, „deinen alten Namen zu vergessen, ihn nie mehr zu nennen, nicht vor dir und vor niemandem sonst. Du heißt Alessia-Louise. Und ich taufe dich auf den Spitznamen“, sagte ich und goss langsam die Fanta über Alis Stirn, „Ali. Ali Schröder.“

Ali saß im Schneidersitz vor mir. Sie schloss die Augen, weil Fanta wahrscheinlich brennt und grinste breit und zufrieden.

„Jetzt du!“, sagte Ali und sprang tropfend auf. Ich setzte mich vor sie und guckte zu ihr hoch. Mein Herz klopfte, weil ich wissen wollte, welchen Spitznamen sie für mich ausgesucht hatte. Sie guckte auf meine Taufurkunde, die sie in der Hand hielt, und tat so, als würde sie vorlesen, obwohl ich wusste, dass da fast nichts draufstand. Ali war noch nie in der Kirche gewesen, aber sie redete wie sie sich vorstellte, dass man in der Kirche redete. Es hörte sich gut an, wie ein Gedicht. Auch wenn ich, statt richtig zuzuhören, sie nur anstarren konnte. Geh nicht, dachte ich. Wir könnten zusammenbleiben. Wir könnten hier wohnen, so richtig, hier im Punkhaus. Hier haben wir doch alles, die Tage müssten sich nicht ändern. Bitte, bleib. Ich will nicht ohne dich sein.

„Kato Zipfel!“, sagte sie, und ich schloss die Augen einen Moment zu spät, die Fanta lief hinein, die Kohlensäure bitzelte.

Dita Zipfel

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