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Ein Einkaufshelfer in Nordrhein-Westfalen, der für alte Menschen einkaufen geht.

© Oliver Berg/dpa

Solidarität in der Krise: Wie die negativen Folgen der Kollektiv-Quarantäne gedämpft werden können

Solidarisch sein heißt sonst, sich nah zu sein - das Virus stellt diese Gewohnheit auf den Kopf. Neue Formen des Miteinanders müssen gefunden werden. Ein Gastbeitrag.

Holger Lengfeld ist Soziologe an der Universität Leipzig

Weder Waldsterben und Atomkriegsgefahr in den 1980er Jahren, Massenarbeitslosigkeit in den 1990ern, die Finanz- und die Flüchtlingskrise der 2010er Jahre und jüngst die Klimawandelkrise haben derart rasch und tief in den Alltag der Menschen eingegriffen wie das Coronavirus.

Die drastischen Maßnahmen zur Unterbrechung von sozialen Kontakten, die Bund und Länder stetig ausweiten, um die Pandemie einzudämmen, führen zu einem in Friedenszeiten ungeahnten Eingriff in die Freizügigkeit des Einzelnen.

Mediziner sagen, dass diese Maßnahmen zwingend notwendig sind, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen und damit abzuschwächen. Denn je weniger wir uns sozial austauschen, desto schwerer hat es das Virus sich zu vermehren.

Solidarität - aber wie?

Die Bundeskanzlerin hat deshalb zur Solidarität der Bevölkerung aufgerufen zugunsten jener, die am schwersten von den Infektionen betroffen sind: Ältere und Personen mit Vorerkrankungen, die bei einer Überlastung des Gesundheitssystems durch viele minderschwere Fälle keine intensivmedizinische Betreuung mehr bekommen könnten.

Solidarität in diesem Sinne bedeutet: Indem ich soziale Kontakte unterbinde, bin ich solidarisch, weil ich, sollte ich infiziert sein, niemanden anstecken kann. Außerdem schützt mich die Isolation als Nicht-Infizierter selbst.

Scheinbar ideale Bedingungen, damit die Bevölkerung die Maßnahmen der Regierung unterstützt. Und tatsächlich zeigen jüngste Umfragen wie der ARD-DeutschlandTrend vom 19. März, dass die Akzeptanz der Bevölkerung groß ist.

Im Widerspruch zu unserer Intuition

Dies könnte aber in einigen Wochen anders aussehen, denn die ausgerufene Solidarität steht im Widerspruch zu unserer Intuition hinsichtlich der Hilfsbereitschaft im Alltag: Gesunde pflegen Kranke, Familienangehörige und Freunde helfen einander in Notlagen aus, Beschäftigte streiken gemeinsam um Löhne und Arbeitsbedingungen, Menschen erklären auf Demonstrationen ihren gemeinsamen Willen.

Solidarität bedeutet sehr oft, dass wir den sozialen Austausch zum Wohle Schwächerer verstärken; Menschen schließen sich zusammen, um einander zu helfen.

Solidarität ist dann besonders wirksam, wenn sie Mitgliedern einer Gruppe gilt, der man selbst angehört, mit der man sich identifiziert und mit deren Angehörigen man in direktem Kontakt steht. Die eigene Familie, Kollegen am Arbeitsplatz und der Freundschaftskreis sind besonders solidaritätsfähige Gruppen.

Gewohnheiten werden auf die Probe gestellt

Die gegenwärtige Isolationspolitik bringt uns in die paradoxe Situation, einander gerade nicht durch direkten Zusammenschluss helfen zu können. Besonders radikal bricht die Ausgangssperre mit unserer Gewohnheit, einander in der Not beizustehen.

Damit fehlt dem aktuellen Ruf nach Solidarität die große Kraft, die sich aus der wechselseitigen emotionalen Verbundenheit von Menschen schöpft. Es besteht die Gefahr, dass dieser Ruf umso mehr verhallt, je länger die Freiheit des Einzelnen beschränkt ist.

Denn je länger das soziale Leben brachliegt, Schulen, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen geschlossen sind, desto mehr werden die Säulen der Gesellschaft geschwächt, die unter normalen Bedingungen den Zusammenhalt aller sicherstellen.

Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Eltern, die Probleme haben, ihre Kinder zu betreuen, werden Unternehmen und Verwaltungen zunehmend fernbleiben − mit der möglichen Folge, dass es in bestimmten Branchen zu Versorgungsengpässen kommt.

Die Entscheidung von Krankenkassen und Ärztevereinigungen, bei leichten Erkrankungen Atteste auch ohne Arztbesuch auszustellen – eine zweifellos sinnvolle Maßnahme, um das Gesundheitssystem zu entlasten –, könnte die Krankschreibungsquote in die Höhe treiben und damit ungewollt Wirtschaft und Verwaltungen schwächen.

Die Schließung von Geschäften und Betrieben führt zu Einnahmeausfällen für Selbständige und zu Lohnkürzungen für Arbeitnehmer. Alte Menschen, die ohnehin weniger soziale Kontakte haben, könnten zunehmend vereinsamen, wenn Seniorenfreizeiteinrichtungen geschlossen sind, der Arzt- oder Friseurbesuch zum Risiko für die eigene Gesundheit wird und die Angehörigen nicht mehr zu Besuch kommen sollen.

Fahren auf Sicht

Vereinsamung im hohen Lebensalter befördert aber die Sterblichkeit. Jugendlichen entfällt die ordnungsstiftende Kraft des Alltags durch Schule, Sportverein und Jugendclub.

Personen mit geringem Vertrauen in die Demokratie könnten Wirtschaft und Staat für die Ausbreitung des Virus verantwortlich machen – bereits jetzt kursieren im Internet obskure Verschwörungstheorien. Der ohnehin starke Populismus in Deutschland könnte weiteren Auftrieb bekommen.

Für den Zusammenhalt der Gesellschaft werden die aus epidemiologischer Sicht zweifellos notwendigen Maßnahmen zu einem Härtetest, und zwar je länger sie anhalten.

Es geht nicht um Schwarzmalerei: Was in naher Zukunft passieren wird, wissen wir alle nicht. Es gibt keinen Masterplan, nur Fahren auf Sicht.

Neue solidarische Formen

Dennoch sollte sich die Politik vorausschauend auch mit den möglichen gesellschaftlichen Folgen der Schwächung des sozialen Zusammenhalts beschäftigen, wenn die Vorsorgemaßnahmen über Ostern hinaus anhalten.

Wie kann man Arbeitnehmer systemwichtiger Branchen so unterstützen, dass sie weiterhin am Arbeitsplatz erscheinen, damit wichtige Güter und Dienstleistungen weiter hergestellt und erbracht werden?

Inwiefern könnten Nachbarschaftszirkel gezielt ermuntert werden, ältere Mitbewohner von Mietshäusern durch Einkäufe und Alltagsgespräche zu unterstützen oder Kinder von Nachbarn zu betreuen?

Welche sinnstiftenden Angebote kann man Jugendlichen auf Freiluftplätzen machen, ohne dass die Infektionsgefahr hoch ist? Könnten Schulen stark begrenzte Präsenzzeiten einführen, so dass jedes Kind einmal die Woche die Schule besucht, aber nur mit einer geringen Zahl von Mitschülern in Kontakt kommt?

Die emotionale Kraft nutzen

Könnten Einzelhändler weiter öffnen, wenn sich Kunden telefonisch anmelden müssen und damit die Zahl derer, die sich gleichzeitig in einem Laden aufhalten, gering bleibt?

Solche Vorschläge können im Moment keine erste Wahl sein. Sie könnten aber mittelfristig helfen, die emotionale Kraft der Solidarität zu nutzen, die wir alle in uns tragen: Gezielten, begrenzten sozialen Austausch bewusst zu fördern und nicht zu behindern.

Das könnte dazu beitragen, die negativen Folgen zu dämpfen, die eine längerfristige kollektive Quarantäne für die Gesellschaft mit sich bringen wird.

Holger Lengfeld

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