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Indigene trauern um fünf Mitglieder ihrer Gemeinschaft aus dem Tacueyo-Reservat, die von der Farc-Guerilla getötet wurde.

© dpa/Christian Escobar Mora

Krieg in Kolumbien: Wie ein früherer Kämpfer den Frieden bringen will

Präsident Petro verhandelt mit der Guerilla und kriminellen Gruppen über ein Ende der jahrzehntelangen Gewalt in Kolumbien. Die Chancen sind größer als je zuvor.

Sie sind die letzte verbliebene Guerrilla Kolumbiens: die ELN, kurz für Ejército de Liberación Nacional. Knapp 60 Jahre gibt es sie schon – genauso lange wie den bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Nun sollen auch die ELN die Waffen niederlegen. Präsident Gustavo Petro, selbst ein Ex-Guerrillakämpfer, hat es zu seinem Regierungsprojekt gemacht, den Konflikt endgültig zu beenden. Kann ihm das gelingen?

Zumindest hat er sich viel vorgenommen. „Wir sprechen hier vom längsten, tödlichsten und komplexesten Konflikt in der Geschichte Lateinamerikas“, sagt Jerónimo Ríos Sierra. Der Politologe forscht an der Universidad Complutense in Madrid zu politischer Gewalt und war beteiligt an früheren Friedensverhandlungen in Kolumbien.

Knapp 500.000 Menschen, so die Berechnung der kolumbianischen Wahrheitskommission, haben in den vergangenen 60 Jahren ihr Leben gelassen.

Der Beginn von Kolumbiens Bürgerkrieg wird zwischen 1963 und 1967 datiert. Es war die Zeit der kubanischen Revolution, in Lateinamerika bildeten sich linke, kommunistische Guerrillagruppen. In Kolumbien waren das in erster Linie: ELN, Farc und M-19. Sie kämpften gegen die liberale Regierung und ihr Wirtschaftsmodell.

© Grafik: Tagesspiegel/Katrin Schuber | Quelle: Stiftung Wissenschaft und Politik, Stand: 20.09.2022

In den folgenden Jahren boomte der Kokainhandel. Für die Guerilla und andere bewaffnete Gruppen war das ein Weg, sich zu finanzieren. Als Antwort auf die Guerilla entstanden wiederum paramilitärische Gruppen und Drogenkartelle wie das „Cartél Medellín“ unter Führung des berüchtigten Pablo Escobar. Es gab erbitterte Kämpfe um Gebiete und Einfluss, der Staat verlor die Kontrolle über weite Teile des Landes.

In den Achtzigern und Neunzigern versuchte die kolumbianische Regierung erstmals, mit verschiedenen Guerillagruppen zu verhandeln. Einige von ihnen, zum Beispiel M-19, legten die Waffen nieder und gliederten sich ins politische System ein.

Zu den anfangs aussichtsreichsten Verhandlungen kam es 2016 unter dem damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos: Die Farc unterschrieb ein Friedensabkommen, in dessen Folge sie einen Großteil ihrer Waffen niederlegte und als Partei in die institutionelle Politik ging. Santos wurde dafür später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Auch mit der ELN saß Santos damals an einem Tisch. „Sie fühlten sich aber nie genauso ernst genommen, als wären sie bloß der kleine Bruder der Farc“, sagt Andrei Gomez-Suarez, Wissenschaftler für internationale Beziehungen an der Universität in Winchester. Er ist Kolumbianer und hat sich auf Konfliktlösung und Friedensverhandlungen spezialisiert. Die Verhandlungen mit der ELN endeten 2019 abrupt, nachdem die Gruppe einen Anschlag auf eine Polizeischule verübt hatte.

Trotz des Abkommens von 2016 kann in Kolumbien bis heute nicht von Frieden die Rede sein. Etwa 1500 soziale Akteure und 400 Guerillakämpfer wurden seitdem getötet, allein vergangenes Jahr gab es landesweit mehr als 12.000 Mordopfer. Das ist fast fünfzigmal so viel wie in Deutschland. Schätzungen zufolge existieren nach wie vor mehr als 50 bewaffnete Gruppen. Der Kokainanbau, finanzieller Motor des Konflikts, floriert so gut wie seit 20 Jahren nicht mehr.

Präsident Petro weiß: Will er Frieden, muss er mit allen reden.

Andrei Gomez-Suarez, kolumbianischer Schriftsteller und Wissenschaftler für internationale Beziehungen

„Frieden meint nicht die Abwesenheit von Krieg“, erklärt Jerónimo Ríos Sierra. „Es meint die Abwesenheit jener Faktoren, die Krieg möglich machen – wie den Kokainhandel oder die Existenz von Guerillagruppen. Bis diese Faktoren nicht beseitigt sind, wird sich der Konflikt in Kolumbien weiter nähren.“

Wenn Gustavo Petro jetzt über Frieden verhandelt, muss er deshalb auch diesen Parallelstrukturen ein Ende setzen: dem illegalen Bergbau, illegaler Abholzung, dem Drogenhandel.

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Die ELN finanziert sich vor allem durch den unerlaubten Bergbau. Hierüber zu verhandeln, wird für Petro schwer“, sagt Ríos Sierra. „Er kann ihr aber in anderen Punkten entgegenkommen, zum Beispiel in ihrer Forderung nach mehr direkter Demokratie. Wenn sie anderswo ihren Willen bekommt, könnte sie die Verhandlungen als Erfolg verkaufen.“

Dass Petro der ELN diese Art politischer Verhandlungen anbietet, ist neu, sagt Gomez-Suarez. „Anders als Santos ist Petro bereit, auch über strukturelle und wirtschaftliche Reformen zu sprechen. Er ist der erste kolumbianische Präsident, der die ELN nicht als Problem sieht, sondern als Symptom für einen Staat, der große Teile der Bevölkerung über Jahrzehnte vernachlässigt hat.“

Kolumbien ist eines der Länder in Lateinamerika mit der größten sozialen Ungleichheit, überholt nur von Brasilien.

Petro ist in vielerlei Hinsicht anders als seine Vorgänger. Er führt die erste Linksregierung in der Geschichte Kolumbiens an, war früher selbst Guerillero. „Petro versteht die Komplexität des Konflikts“, sagt Andrei Gomez-Suarez. „Er weiß: Will er Frieden, muss er mit allen reden.“ Das ist außergewöhnlich, meint es auch die paramilitärischen Gruppierungen und Drogenkartelle. Mit ihnen verhandelte Santos damals nicht.

500.000
Todesopfer haben die bewaffneten Konflikte in Kolumbien in den vergangenen 60 Jahren gefordert

Jeder Partei macht Petro dabei ein anderes Angebot. Kriminellen Gruppen zum Beispiel bietet er mildere Haftstrafen, wenn sie ihre Machenschaften beenden und sich der Justiz stellen. Das wiederum vor den Opfern ihrer Gewalttaten in der Zivilgesellschaft zu rechtfertigen und diese zu entschädigen, wird eine weitere Herausforderung, der sich der Präsident stellen muss.

Wie gut stehen seine Chancen, dem Land Frieden zu bringen? „Ich glaube nicht, dass Petro mit der ELN schafft, was Santos mit der Farc geschafft hat“, sagt Gomez-Suarez. Der Wissenschaftler denkt dabei an Bilder, die 2017 durch das Land gingen: große Konvois von Fahrzeugen der Farc, die ihre Lager verließen. Guerillakämpfer, die Schlange stehen, um ihre Waffen abzugeben. Die ELN ist deutlich heterogener und dezentraler organisiert, als es die Farc waren. Und schon dort haben sich 2016 längst nicht alle Guerillakämpfer dem unterzeichneten Frieden angeschlossen.

„Aber ich glaube, wir können dem Frieden mit diesen Verhandlungen zumindest ein Stück näherkommen“, sagt er. In der zweiten Verhandlungsrunde, die in dieser Woche zu Ende geht„ gestand Petro der ELN schon mal zu, eine politische Organisation zu sein – eine Grundvoraussetzung für die Gespräche. Der Regierung zufolge ist man außerdem einem Waffenstillstand nähergekommen.

Jerónimo Ríos Sierra glaubt, dass die Gespräche einige Jahre andauern werden. Santos verhandelte damals vier Jahre mit den Farc. „Kolumbien wird noch Jahrzehnte brauchen, um seinen Konflikt zu beenden.“

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