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Achtung Bären!

© Foto: Robert Klages

Bären und Baseballschläger: Der Streit um die besetzten Wälder in Polen

In den polnischen Karpaten leben zahlreiche Braunbären. Die dortige Forstindustrie möchte den Wald in Briketts und Regale verwandeln. Waldbesetzer wollen ihn schützen.

Nowak und Józefiak sind bereits mehrere Kilometer durch den dichten Mischwald gelaufen und haben zwei Flüsse überquert, als Nowak plötzlich aufgeregt etwas auf Polnisch ruft. „Eine Spur“, sagt er dann auf Englisch und zeigt auf den Abdruck einer riesigen Bärentatze im matschigen Waldboden. Klar, hier in den Karpaten gibt es Bären.

Doch nun wissen die beiden: Die Bären sind ganz in der Nähe. Der Abdruck sei noch frisch, sagt Tomasz Nowak, ein Bärenwissenschaftler, der seit mehr als 20 Jahren ihr Leben erforscht und nun mit Marek Józefiak von Greenpeace unterwegs ist.

Das Leben der Bären in den polnischen Wäldern wird zunehmend schwer, so wie hier im Wald von Bieszczadzki, Forstinspektion Lutowiska, Sektor 73, gelegen im südöstlichen Polen, kurz vor der Grenze zur Ukraine. Nowak will nicht, dass sein richtiger Name veröffentlicht wird, weil er keine Probleme mit dem Staatsforstbetrieb Lasy Państwowe, zu Deutsch: Nationale Wälder, bekommen möchte.

Aber auch, weil er seine Entlassung fürchtet, wenn er mit der Presse spricht. Denn der Grund für das zunehmend schwere Leben der Bären hat viel mit der polnischen Forstwirtschaft zu tun, die ihren Lebensraum in Regale, Pressspanplatten und Briketts verwandelt.

Die Abholzung der Wälder Europas schreitet immer weiter voran – und Polen ist vorne dabei. Der Preis für Holz in Europa ist durch den russischen Überfall auf die Ukraine massiv gestiegen. In der EU in diesem Jahr um 27 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, in Polen um fast 60 Prozent, wie die „Koalition für polnisches Holz“ berichtet.

Sie schätzt, dass die Preissteigerung bei Holzauktionen im kommenden Jahr noch einmal 40 Prozent betragen wird. In Deutschland sind Brennholz und Holzpellets um 86 Prozent teurer geworden. Seit dem Krieg in der Ukraine bleiben Holzlieferungen von dort aus und auch die aus Belarus.

Unberührte Natur in den polnischen Karpaten.

© Robert Klages

Seit einiger Zeit demonstrieren polnische Umweltschutzgruppen gegen die Abholzung der Wälder, und auch Greenpeace. Mittlerweile haben Aktivist:innen Camps im Wald aufgeschlagen und besetzen immer mehr Gebiete. Auch hier im Wald von Bieszczadzki.

Marek Józefiak zeigt auf einen Baum mit einem roten Punkt, eine Markierung für die Abholzung. Dann deutet er auf die abgelöste Rinde darunter, Spuren von Bären. Diese finden sich an zahlreichen Bäumen, genauso wie die roten Punkte. „Diese Tanne ist sicherlich mehr als 100 Jahre alt“, sagt Józefiak. Auf ihrem Stamm ist ein großes rotes S zu erkennen. Aus diesem Baum soll „sklejka“ gemacht werden: Sperrholz. 

Ein paar Meter weiter hatte im vergangenen Jahr eine Bärenfamilie ihr Winterquartier, unter dem Stumpf eines umgekippten Baumes. Rund um die Höhle sind ebenfalls Bäume zur Abholzung markiert, an dieser Stelle soll eine Waldstraße geplant sein, um die abgeholzten Bäume aus dem Wald zu transportieren.

Józefiak regt das auf. Die voranschreitende Abholzung der Wälder ohnehin. Aber wie nur konnten die Mitarbeiter der polnischen Försterei die offenkundigen Spuren der Bären übersehen und diese Bäume markieren? Oder haben sie die Spuren gar nicht übersehen?

Raubtierspuren praktisch überall

Ein roter Punkt am Stamm bedeutet: Abholzung. Häufig sind auch Bärenspuren an den markierten Bäumen zu erkennen.

© Robert Klages

Rafał Osiecki, Leiter des Forstbezirks Lutowiska, antwortet auf eine Anfrage: Raubtier-Spuren seien praktisch in allen Wäldern des Bieszczady-Gebirges – dem karpaten-Gebirgszug hier – anzutreffen. „Die Forstinspektion Lutowiska bemüht sich stets darum, sowohl das Vorkommen geschützter Arten als auch die Verfügbarkeit von Holz jetzt und für künftige Generationen sicherzustellen.“

Die Zahl der Bären hätte sich in den vergangenen 30 Jahren verfünffacht, wie er sagt, sie kämen immer näher an die Siedlungen heran. In den gesamten Karpaten, von Tschechien bis Rumänien, sollen bis zu 6500 Braunbären leben, die meisten davon in Rumänien.

„Der Lebensraum ist sehr gut und die Waldbewirtschaftung verursacht keine negativen Auswirkungen auf die gesamte Bärenpopulation.“ Dass die Population weiterhin steige, beweise ja, dass die Forstarbeiten keinen Einfluss auf die Entwicklung hätten.

Marek Józefiak von Greenpeace Polska vor einer verlassenen Bärenhöhle.

© Robert Klages

Dabei sieht das Gesamtbild düster aus: Polen hat zwar einige Urwälder und insgesamt rund neun Millionen Hektar Waldfläche, aber nur rund ein Prozent davon ist als Nationalpark geschützt. Diese werden wohl tatsächlich in Ruhe gelassen, doch spricht Greenpeace von einer heimlichen Abholzung der Wälder, die an die Nationalparks grenzen – und das wiederum würde langfristig auch diese in ihrer Existenz bedrohen. „Die Nationalparks drohen, zu Inseln zu werden“, sagt Nowak. „Sie allein sind zu klein für das Überleben von Wölfen, Bären und Wisenten. Die Tiere benötigen riesige Areale.“

Neben den Nationalparks gibt es sogenannte „Pufferzonen“ – hier ist Abholzung nicht illegal, obwohl die Wälder eigentlich geschützt werden sollen.

Die Stiftung Naturerbe spricht von „Scheinschutz“ und hat keinen Zweifel daran, dass Polen gegen geltendes EU-Recht verstößt – immerhin befindet sich der Sektor 73, der von der Abholzung bedroht ist, in einem von der EU besonders geschützten Natura-2000-Gebiet. Fortpflanzungs- und Ruhestätten von Braunbären müssen hier geschützt werden. Doch Rafał Osiecki sagt, das europäische Recht verbiete nicht, forstwirtschaftlich tätig zu sein, selbst wenn Bären in einem Gebiet leben.

Die Nationalparks drohen, zu Inseln zu werden.

Der polnische Bärenwissenschaftler Tomasz Nowak

Die Frage ist allerdings, wie lange im Wald von Bieszczadzki überhaupt noch Wildtiere leben, wenn weiter abgeholzt wird. Laut des „Living Planet Reports“ 2022 der Naturschutzorganisation WWF ist die Population wildlebender Tiere weltweit seit 1970 um durchschnittlich 69 Prozent zurückgegangen. Europa ist eine der Regionen, die bei der „Unversehrtheit der biologischen Vielfalt“ am schlechtesten abschneidet.

Nowak und Józefiak sind inzwischen bei Sektor 72 angelangt. Hier wurde bereits 2020 mit der Abholzung begonnen. Sektor 72 darf nicht betreten werden, offiziell aus Sicherheitsgründen. Es sind nur ein paar Meter von Sektor 73 zu Sektor 72, aber es tut sich dort eine andere Welt auf: breite Furchen, Baumstümpfe, rote Punkte, offener Himmel ohne Baumkronen.

In Sektor 72 hat die Abholzung bereits begonnen.

© Robert Klages

Belassen oder aufräumen?

Die staatliche Forstindustrie gibt an, nur einige wenige Bäume herauszuholen und etwas Licht in den Wald zu bringen. Das sei notwendig, damit neue Bäume nachwachsen könnten. Außerdem würde der Betrieb die Natur schützen und jedes Jahr 500 Millionen neue Bäume im Land pflanzen. „Aber sie zerstören den Wald“, sagt Józefiak. Wenn es nach Greenpeace ginge, würde im Wald nicht aufgeräumt. Alles soll so bleiben, wie es die Natur gestaltet, die den Menschen nicht benötigt, um ihr Ökosystem zu regeln.

Nicht weit entfernt lebt der Biberwissenschaftler Andrzej Czech, keine drei Kilometer vor der Grenze zur Ukraine. Czech hat sich vor mehr als 20 Jahren ein paar Hektar Wald gekauft – um diese so zu belassen, wie sie sind. Beim Spaziergang durch „seinen Wald“, erklärt der Biologie-Professor, dass tote Bäume liegengelassen werden sollten, das sei wichtig für die Diversität des Ökosystems. Es müsse auch kein „Licht geschaffen“ werden im Wald durch gezielte Abholzung.

Biberwissenschaftler und Forstbetrieb-Aussteiger Andrzej Czech

© Robert Klages

Czech war selbst lange Zeit „Forest Guard“, Angestellter beim Staatsforstbetrieb und hat als solcher für „Licht im Wald“ gesorgt. Heute sieht er seinen früheren Arbeitergeber anders. „Forstwirtschaft bedeutet nichts weiter als Abholzung – der Rest ist Bullshit.“

Seine Frau und er haben sich ein Haus im Wald gebaut, mit Drohnen verscheucht er Jäger und er lebt überwiegend autonom von Solarenergie. Er ist nicht der einzige Aussteiger. Auch ein anonymer Twitter-Account berichtet seit Januar 2017 über die „Machenschaften des Forstbetriebs“ und spricht von „Profitgier“.

Forstwirtschaft bedeutet nichts anderes als Abholzung - der Rest ist Bullshit

Der ehemalige „Forest Guard“ und Biologe Andrzej Czech

Tatsächlich ist der polnische Staatsforstbetrieb ein immenses Wirtschaftsunternehmen, das fast ein Drittel der Gesamtfläche Polens bewirtschaftet. Die Gehälter in der Forstwirtschaft sind gut, das lokale Ausbildungszentrum ist angesehen. Außerdem sei mit der rechtskonservativen PiS-Regierung die Forstwirtschaft noch mächtiger geworden, sagt Czech, die ohnehin gute Beziehungen in die Politik habe, zu den Kirchen und zu den Jagdverbänden sowieso.

Im Wald von Andrzej Czeck leben zwölf Biber.

© Robert Klages

Czech meint, viele Forstmitarbeiter seien eigentlich gute Leute, aber sie wüssten nicht, in welche Industrie sie da geraten seien. „Sie meinen vielleicht, es sei okay, hier und da Bäume aus dem Wald zu holen, weil es ja noch so viel Wald gibt und sie neue Bäume pflanzen. Aber dadurch wird das System gestört und der Wald zerfällt. Die nachgepflanzten Wälder dienen nicht den Tieren, sondern sind einzig und allein Holz für die Industrie.“

Die Forest Guards haben auch immer wieder mit Aktivist:innen und ihren Protestcamps zu tun. In einem Abschnitt des Bieszczadzki-Waldes campieren seit 19 Monaten einige junge Menschen der Initiative „Wilde Karpaten“ mit dem Ziel, die Abholzung der Karpaten zu stoppen. Sie haben Baumhäuser errichten, Zelte auf Paletten in Wipfeln – hier schläft der Nachtdienst. Mit einem Seilzug gelangen die Mitglieder hoch und runter, wenn sie sich beim Bewachen des Waldes ablösen.

Hier wird Nachtwache geschoben.

© Robert Klages

Angriff mit Baseballschlägern

Jadwiga Klata, Jósefine Bendiuk und Jakob „Kuba“ Rok sitzen vor dem Trailer des Camps, essen frisch gekochte Pilzsuppe und erzählen. Ihre Methoden haben sich die Aktivist:innen auch aus Deutschland abgeschaut, bei der Besetzung des Hambacher Forstes zum Beispiel. Klata war in Berlin bei Aktionen von „Extinction Rebellion“ dabei und wurde in Gewahrsam genommen. Ihr Camp in Polen wurde bereits mehrfach angegriffen. Einmal von vier betrunkenen Männern mit Baseballschlägern, die den Bulli zerstörten und eine Frau mit dem Schläger am Kopf verletzten.

Jakob Rok („Kuba“), Jadwiga Klata und Jósefine Bendiuk von den „Wild Carpathians“ vor ihrem Camp.

© Robert Klages

Trotzdem, glauben Kuba, Klata und die anderen, ist ihre Anwesenheit zwingend: Das Waldgebiet, für das sie kämpfen, sollte bereits vor 40 Jahren zu einem Nationalpark erklärt werden, aber es passierte nichts. Stattdessen begann die Abholzung. Sie würde nun durch den Protest weitestgehend unterbunden. Der 35-jährige Kuba arbeitet an der Universität in Warschau, er ist Dozent in Betriebswirtschaftslehre. Er sagt, in Polen gebe es nicht nur die „Wilden Karpaten“, sondern überhaupt eine Bewegung „gegen die Abholzung und die Ignoranz der Regierung“.

Am 8. August 2020 wurde das erste Camp im Wald geräumt, etwa fünf Kilometer entfernt, „Nora 219a“, benannt nach seinem Sektor. Die Räumung kam ohne Ankündigung mit der offiziellen Begründung: Verdacht auf Drogenbesitz. Kuba sagt, in ihrem Camp seien Drogen verboten – natürlich auch Alkohol. Davon würden sie ohnehin nichts halten. Die Polizei schaut noch immer ab und zu vorbei, erzählt Kuba, aber bisher sei es friedlich. Er habe den Eindruck, dass die Bewegung mehr akzeptiert und auch von den Leuten in den Dörfern anerkannt wird. Die Aktivist:innen wollen so lange bleiben, bis hier ein Nationalpark entstanden ist. Dann verabschiedet sich Kuba zum Waldspaziergang, nachsehen, ob nicht irgendwo doch Bäume fehlen.

Versucht, die Wälder zu schützen: Kuba Rok aus Warschau.

© Robert Klages

Fortwirtschaftsleiter Osiecki hält nicht viel von der Besetzung und sagt, die Aktivist:innen würden nicht verstehen wollen, dass jeder alte Baum mal ein junger Baum war – man müsse nachpflanzen. Immerhin werden die Bäume im Sektor 73 mit hoher Wahrscheinlichkeit bleiben. Als bekannt wurde, dass die Bärenhöhlen im Wald noch bewohnt sind, ging die Stiftung Naturerbe gerichtlich gegen den drohenden Holzeinschlag vor und hat im September einen Erfolg vor dem Bezirksgericht in Krosno errungen: Sektor 73 darf nicht abgeholzt werden. Der Lebensraum der Bären soll erhalten bleiben.

Das Urteil ist zwar noch nicht rechtskräftig, könnte aber zu einem Präzedenzfall werden, von dem Greenpeace Polska viel erwartet. „Ein historischer Schritt“, sagt Józefiak. Und gerade noch rechtzeitig für den Schutz der Braunbären. Die Jungen werden während der Winterruhe der Mutter geboren, die normalerweise Ende des Jahres beginnt. Störungen während der Geburt oder danach können zum Tod der Jungtiere führen, und das ist auch in einer der bärenreichsten Regionen Europas wichtig. In Polen selbst leben noch insgesamt etwa 100 bis 160 Bären – 90 Prozent davon in den Wäldern von Bieszczadzki.

Trügerischer Eindruck: unberührte Natur in den Karpaten.

© Robert Klages

Doch der Schutz der Bäume und der Bären im Sektor 73 ist nur ein kleiner Erfolg in einem großen Kampf. Sektor 73 hat noch immer nicht den Schutzstatus eines Nationalparks, in denen Abholzung und die Jagd illegal sind. Geht es nach Greenpeace, soll aber nicht nur Sektor 73 zum Nationalpark werden, sondern am besten die ganzen 29.000 Hektar des Bieszczadzki-Gebirges.

Trotz der frischen Bärenspuren begegnen Nowak und Józefiak während der dreitägigen Tour durch die Wälder der Karpaten keinem Bären. Es ist ihr Glück. Eine Woche später wird ein polnischer Förster in einem Tannenwald am Rande des Gebirges von einer Bärenmutter mit einem Jungen angegriffen – und mit einer 20 Zentimeter langen Wunde ins Krankenhaus eingeliefert. Die Waldbesetzer von der Initiative „Wilde Karpaten“ schrieben dazu, sie hätten schon vor Monaten davor gewarnt, in das Refugium der Braunbären einzudringen. „Lasst uns nicht das Leben von Menschen und Bären bedrohen“, appellierten sie auf Twitter. „Lasst uns ihre Heimat in Frieden lassen.“

Die Reise wurde von Greenpeace Polska organisiert. Der Autor war im September und Oktober mit einem IJP-Stipendium zum Thema „Klima und Energie“ in Polen.

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