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Verwandte und Nachbarn einer Verstorbenen bei deren Beerdigung Anfang Januar in einem Dorf im Kreis Tonglu, Provinz Zhejiang.

© Reuters/Aly Song

China und Corona: Der Landbevölkerung droht zum Neujahrsfest ein gefährliches Wiedersehen

Bei den Feierlichkeiten dieses Wochenende könnten mehrere hundert Millionen Reisende das Infektionsgeschehen antreiben – und in medizinisch unterversorgte Dörfer tragen.

Für viele Chinesen ist es die erste Heimreise seit drei Jahren. Das Mond-Neujahrsfest, das an diesem Sonntag beginnt, war bis zur Pandemie die größte regelmäßige Wanderbewegung der Welt. Hunderte von Millionen Menschen reisten jeden Januar oder Februar in ihre Heimatstädte.

Für Arbeitsmigranten, faktisch Gastarbeiter im eigenen Land, die ärmlich in Fabrikschlafsälen in Städten fernab ihrer Familien leben, bringt das Fest eine ersehnte Pause. Alle Menschen im China erhalten gesetzlich sieben Tage frei.

Doch in diesem Jahr droht der Volksrepublik ein gefährliches Déjà-vu. Die abrupte Abkehr von der Null-Covid-Politik der KP-Führung im Dezember, der ungeahnte Straßenproteste vorausgegangen waren, hat die Infektionen explodieren lassen. Das Regime um Partei- und Staatschef Xi Jinping lässt dem Virus freien Lauf.

Die Behörden rechnen mit 2,1 Milliarden Reisen

Bereits Neujahr 2020, wenige Wochen nach dem Erstausbruch in Wuhan, hatten Heimkehrende die Verbreitung im ganzen Land begünstigt. In den beiden Jahren darauf dämmte die Regierung Neujahrsreisen stark ein und setzte auf Anreize wie Einkaufsgutscheine oder die Übernahme von Telefonrechnungen, wenn Bewohner auf Heimreisen verzichteten. Nun, da die Beschränkungen nicht mehr gelten, rechnet das Verkehrsministerium mit 2,1 Milliarden Reisebewegungen.

Reisende verlassen den Pekinger Zentralbahnhof. Zum Mond-Neujahrsfest, das auch in anderen ostasiatischen Ländern gefeiert wird, reisen die Chinesen traditionell in ihre Heimatorte.
Reisende verlassen den Pekinger Zentralbahnhof. Zum Mond-Neujahrsfest, das auch in anderen ostasiatischen Ländern gefeiert wird, reisen die Chinesen traditionell in ihre Heimatorte.

© dpa/Mark Schiefelbein

In den Landkreisen hat die hektische Vorbereitung dessen begonnen, was schon numerisch kaum zu leisten ist. Rund 500 Millionen der 1,4 Milliarden Einwohner Chinas leben auf dem Land, überproportional viele sind alte Menschen. Bei den über 80-Jährigen sind offiziellen Zahlen zufolge nur 40 Prozent dreifach geimpft. Laut Regierungsangaben gibt es mit 1,3 Millionen Ärzten und 1,8 Millionen Pflegekräften in den ländlichen Regionen anteilig weniger als halb so viel medizinisches Personal wie in den Städten.

„Ich sorge mich am meisten um den ländlichen Raum und die Bauern“, sagte Xi bei einer Video-Neujahrsansprache vor Mitarbeitern einer Klinik in Harbin am Mittwoch. Die nötige Priorisierung älterer Menschen hob der Parteichef zwar hervor, doch an seinem unvorbereiteten Öffnungskurs hielt er fest. „Durchhalten heißt Siegen“, erklärte er in Richtung der Mediziner.

Doch Dorfärzte sind mitunter nur nebenberuflich Mediziner, manche Praxen nicht mehr als rudimentäre Zimmer in Wohnhäusern. Oft ist das nächste Krankenhaus eine längere, nicht für jeden erschwingliche Busfahrt in die nächste Kreisstadt entfernt.

Eine Frau präpariert nach einem Krankenhausbesuch einen Sauerstoffkonzentrator für ihre 86-jährige Mutter in einem Dorf im Landkreis Lezhi, Provinz Sichuan.
Eine Frau präpariert nach einem Krankenhausbesuch einen Sauerstoffkonzentrator für ihre 86-jährige Mutter in einem Dorf im Landkreis Lezhi, Provinz Sichuan.

© Reuters/Tingshu Wang

„Der Höhepunkt der Covid-Infektionen in unserem Dorf ist überstanden, aber das Frühlingsfest steht an und es gibt viele zurückgelassene Dorfbewohner, vor allem Ältere, die dem Risiko einer Folgeinfektion ausgesetzt sind“, sagte ein Arzt in der Provinz Shaanxi dem Regionalmedium „Roter-Stern-Nachrichten“. Ihn sorge der Mangel an antiviralen Medikamenten.

Das Regime meldet wieder Todeszahlen

Vergangenes Wochenende hatte Peking nach wochenlangem Schweigen für Dezember 59.938 Todesfälle in Verbindung mit Covid-19 ausgewiesen, 5.503 davon seien an unmittelbar von Corona hervorgerufenem Atemwegsversagen gestorben. Es gilt als gesichert, dass die Statistik stark geschönt ist, dennoch ist die Größenordnung aufschlussreich. Bis vor Kurzem hatte China gerade einmal gut 5000 Todesfälle bestätigt – für die gesamte, dreijährige Pandemie.

Internationale Experten gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher liegt. Im Dezember sagte der britische Gesundheitsforschungsdienst Airfinity in einer Modellrechnung täglich 11.000 Todesfälle und 1,8 Millionen Infektionen in China voraus. Bis Ende April könnten demnach 1,7 Millionen Menschen sterben.

Laut einem geleakten Dokument schätzten chinesische Gesundheitsbeamte sogar, dass 250 Millionen Menschen sich in den ersten drei Dezemberwochen angesteckt haben könnten. Die bevölkerungsreiche Provinz Henan in Zentralchina gab kürzlich an, ganze 89 Prozent ihrer Einwohner hätten sich infiziert.

Die Folgen für die kaum immunisierte Bevölkerung sind längst spürbar. Die „Washington Post“ berichtete unlängst anhand von Interviews mit Bestattern und Angehörigen sowie langen Fahrzeugschlangen vor Krematorien, die auf Satellitenbildern zu sehen sind, von der Überlastung der Bestattungsindustrie in Großstädten wie Peking oder Chengdu.

Die WHO hat seit der Zero-Covid-Kehrtwende mehrfach an die kommunistische Führung appelliert, transparent über den Pandemieverlauf zu informieren. Doch laut Recherchen von Reuters halten die Behörden mitunter sogar Ärzte dazu an, auf Sterbeurkunden nicht die Todesursache Covid-19 anzugeben. „Seit der Öffnung im Dezember haben wir aufgehört, Covid als Klassifizierung von Todesfällen zu verwenden“, zitiert die Nachrichtenagentur einen Arzt in einem großen Krankenhaus in Schanghai. „Es hätte keinen Sinn, denn fast alle sind positiv.“

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