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Der türkiische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu

© Reuters/Murad Sezer

Keine Mehrheit gegen Erdoğan: Die türkische Opposition hat einen mächtigen Dämpfer bekommen

Was heißt es nun, dass in der Türkei kein eindeutiger Sieg des Herausforderers Kılıçdaroğlu im ersten Anlauf zustande kam? Ein Hauptgrund ist das Flüchtlingsthema.

Ein Gastbeitrag von Friedrich Püttmann

Auch morgens um halb vier läuft die Politsendung auf dem türkischen Oppositionssender Halk TV noch, denn noch immer sind da nicht alle Stimmen ausgezählt. Die Stimmung innerhalb der Opposition hat jedoch bereits einen mächtigen Dämpfer bekommen.

„Ich frage mich inzwischen, ob ich vielleicht in einer anderen Türkei lebe, und deswegen einfach nicht verstehe, wer all diese Menschen sind, die bis heute anscheinend Erdoğan unterstützen“, sagen mir Freunde an diesem Abend. In der Tat ist die Polarisierung im Land groß, genauso wie der Formung medialer „Blasen“. Das hat auch dieser Abend gezeigt.

Wer den regierungsnahen Sendern folgte, sah lange Zeit einen mit Abstand führenden Erdoğan, während Halk TV den Präsidenten stetig unterhalb von 50% zeigte. Es sind mediale und mentale Parallelwelten wie diese, die die Türkei heute kennzeichnen.

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Die Vielfalt an Lebensrealitäten in der Türkei ist enorm. Sie reicht von der englischsprechenden und um die Welt fliegenden Unternehmerin in den Hochhäusern Istanbuls bis zu Männern mit zwei Ehefrauen und wenigen Türkischkenntnissen in den Dörfern im Südosten des Landes. Doch am Wahltag stimmen sie alle zusammen über die Zukunft ihres Landes ab.

Wer die Türkei und dieses Ergebnis verstehen will, der muss beide Seiten in Betracht beziehen, einschließlich all dem, was dazwischen liegt. Hinzukommt das unsterbliche Charisma des Präsidenten Erdoğan, der zu jeder Krise das passende Narrativ findet, sei es noch so absurd.

„Wenn die Opposition die Wahl gewinnt, dann kommt das einem Putsch des feindlichen Auslandes gleich“, hieß es erst kürzlich aus dem Lager des Mannes, den viele auch einfach nur Reis (Führer) nennen und der bis heute Ruhm für seine Großbauprojekte genießt, beispielsweise Autobahnen.

So kann das Leiden vieler Türken unter der enormen Inflation noch so groß sein, wenn das Fernsehen sagt, dass es den Menschen in Deutschland noch schlechter gehe, dann kann das schon nichts mit der experimentierfreudigen Wirtschaftspolitik des Präsidenten zu tun haben.

Schließlich ist er bekannt, als Verteidiger der Interessen des kleinen Mannes – wirtschaftlich wie kulturell. Was heißt es also nun, dass anders als von vielen erhofft und von den meisten Umfragen vorhergesagt, kein eindeutiger Sieg der Opposition im ersten Anlauf zustande kam?

Keine Mehrheit gegen Präsident Erdogan

Zunächst einmal ist es beachtlich, dass trotz der großen Vielfalt der vereinten Opposition, bestehend aus sechs Parteien und unterstützt von einigen weiteren, welche von säkularen Sozialdemokraten bis zu wirtschaftsliberalen Religiös-Konservativen sowie von beinharten Nationalisten bis zur progressiven Kurdenpartei reicht, keine Mehrheit gegen den regierenden Präsidenten aufgebracht werden konnte.

Das zeigt auch, wie sehr die Türkei heute von einem Ein-Mann-System beherrscht wird. Ein anderer Grund für dieses Ergebnis ist das Flüchtlingsthema. Seit einigen Jahren schon beherbergt die Türkei mit mehr als 3,7 Millionen syrischen Geflüchteten und vielen weiteren von anderswo die meisten Geflüchteten der Welt.

Doch die Idee einer Integration auf lange Zeit ist unaussprechbar im heutigen politischen Diskurs der Türkei; stattdessen mehren sich die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die mit den Syrern verbunden werden, und das Thema heizt den Identitätskonflikt zwischen den politischen Lagern der Türkei weiter an.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gibt sich am Sonntagabend siegessicher.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gibt sich am Sonntagabend siegessicher.

© Imago/Turkish President Press Office

Während Erdoğan sich bis heute oft wohlwollender über die syrischen „Brüder und Schwestern“ äußert, sehen viele säkulare Türken diese als Teil einer Erdoğan-Politik, die das Land religiös-konservativer machen will. Davon profitieren konnte in dieser Wahl der dritte scheinbar unscheinbare Kandidat, Sinan Oğan, dessen Anti-Flüchtlingspolitik ihm ganze fünf Prozent einbrachte und so dazu beitrug, Kemal Kılıçdaroğlu, den Kandidaten der vereinten Opposition, an einem Sieg zu behindern.

Dieser Wahlausgang birgt daher in jeder Hinsicht nichts Gutes. Sollte Erdoğan auch beim zweiten Mal gewinnen, so werden viele der bekannten Probleme höchstwahrscheinlich fortbestehen – ob innerhalb der Türkei oder in den Beziehungen mit der EU.

Verheerende Nachrichten für die EU?

Und sollte Kemal Kılıçdaroğlu mit den ursprünglichen Stimmen Sinan Oğans im zweiten Anlauf gewinnen, so wird er noch mehr unter Druck stehen, seinem Wahlversprechen, einen Deal mit dem syrischen Diktator Baschar Al-Assad zu machen und die Flüchtlinge nach Syrien zurückzuschicken, in welchem Maße auch immer nachzukommen.

Das wären verheerende Nachrichten für die EU, die weder eine erzwungene Massenrückführung der Syrer in die Hände Assads noch eine daraufhin potenziell neue Massenflucht gen Europa gutheißen kann.

Für die EU gilt also, unabhängig vom endgültigen Ergebnis in zwei Wochen, der Türkei beim Flüchtlingsthema mehr entgegenzukommen und sich proaktiv auf eine Neuverhandlung des EU-Türkei-Abkommens einzulassen. Konkrete Vorschläge dafür gibt es bereits.

Und für die Türkei? Ihr kann man nur wünschen, dass sie jenseits dieser Wahlen wieder zusammenfinden und dass die massive identitätsgeleitete Polarisierung durch die Politik ein Ende nehmen wird.

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