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Schwere Last. Kurdische Lastenträger überqueren die Grenze durch einen Fluss in Richtung iranische Grenze. (Foto von Rahman Hassani/SOPA Images/LightRo)

© LightRocket via Getty Images/SOPA Images

„Eine Kugel traf mich direkt in den Kopf“: Wie kurdische Lastenträger ihr Leben beim Schmuggel im Iran riskieren

Die Kolbars schmuggeln Ware über die iranisch-irakische Grenze – ein oft tödlicher Job. Die Not zwingt sie dazu. Anders können die Lastenträger ihre Familien nicht ernähren.

Khalid Ahmadian war 26 Jahre alt, als ihm sein Augenlicht genommen wurde. Vor sechs Jahren versteckte er sich in der Nähe eines verschneiten Dorfes im Iran, seine Tochter Hadis und sein Sohn Mohammad Sami warteten zu Hause auf ihn. Für sie nahm er den gefährlichen Weg durch Dörfer und Täler im irakisch-iranischen Grenzgebiet auf sich. Durch die Schüsse iranischer Grenzsoldaten erblindete er an diesem Tag.

Heute ist Ahmadian 32 Jahre alt, er hat mittlerweile drei Kinder. Seit sechs Jahren arbeitet er nicht mehr als sogenannter Kolbar, als Lastenträger. Ein Job, den aus Not viele in Kauf nehmen – trotz der ständigen Lebensgefahr.

Transportgüter sind Fernseher, Kleider und Tabak

Kolbar sind fast immer Kurden, die etwa zehn Prozent der iranischen Bevölkerung ausmachen. Die Kurden leben mehrheitlich im Nordwesten des Landes, einer Region, die sie Rojhilat nennen. Kolbar sind vor allem in der kurdischen Grenzregion angesiedelt, häufig in der Provinz West-Aserbaidschan, die an Ostanatolien in der Türkei und an die Autonome Region Kurdistan im Norden des Irak grenzt.

Zu Fuß transportieren sie elektronische Geräte, Textilien, Lebensmittel oder Tabak über die iranisch-irakische Grenze, da die Waren im Irak wesentlich billiger sind als im Iran. Nach Berichten des Kurdischen Menschenrechtsnetzwerks (KHRN) reicht die Altersspanne der Kolbars von zwölf bis zu 60 Jahren. In Alltagskleidung legen sie auch im Winter Strecken von bis zu zehn Kilometern zurück.

Auch Hochschulabsolventen bleiben arbeitslos

„Kolbar ist kein Beruf. Ich habe das jahrelang gemacht, weil ich keine andere Wahl hatte“, sagt Ahmadian am Telefon. Seit mehr als zehn Jahren liegt die durchschnittliche Arbeitslosenquote in Kurdistan weit über dem Landesdurchschnitt. Laut der Menschenrechtsorganisation United Iran sind mehr als 40 Prozent der Hochschulabsolventen in den kurdischen Provinzen arbeitslos. Die wirtschaftliche Lage sei dort so schlecht, dass viele junge Menschen wie Ahmadian gezwungen seien, als Kolbar zu arbeiten. Vor allem im Winter gebe es kaum Arbeit, sagt er.

40
Prozent der Hochschulabsolventen in den kurdischen Provinzen sind arbeitslos.

An jenem Mittwoch im Februar 2017 hatte er sich auf den Weg gemacht, um sich mit anderen Kolbars zu treffen und die Route in Richtung Irak anzutreten. Er schulterte damals vor allem Textilien. Für den Transport, der ihn sein Augenlicht kosten sollte, bekam er damals etwa 50 Euro. Heute bekommt ein Kolbar für ein Kilo Ware 30.000 iranische Rial, also circa 50 Cent. Jeder Kolbar schultert so viel, wie er tragen kann, meist bis zu 50 Kilo.

Kolbar ist kein Beruf. Ich habe das jahrelang gemacht, weil ich keine andere Wahl hatte.

Khalid Ahmadian, ehemaliger Lastenträger aus dem Iran

Zusätzlich zur Last macht die Witterung den Trägern zu schaffen. Im gebirgigen Nordwesten des Landes sinken die Temperaturen im Winter unter den Gefrierpunkt – so auch an jenem für Ahmadian verhängnisvollen Tag. „Es war stockdunkel und eiskalt“, erzählt er. „Wir gingen in die Berge oberhalb des Dorfes, als plötzlich auf uns geschossen wurde. Eine Kugel traf mich direkt in den Kopf.“

Jederzeit kann geschossen werden

Eine große Gefahr für die Kolbar sind neben den ungesicherten Bergpfaden, der Witterung und den verbliebenen Landminen auch die iranischen Grenzsoldaten. Sie gehen rigoros gegen die Lastenträger vor und schießen meist ohne Vorwarnung auf sie – denn die ihre Tätigkeit ist im Iran verboten. Im iranisch-irakischen Grenzgebiet sollen zwischen Januar 2015 und März 2022 mindestens 1042 Kolbar getötet oder schwer verletzt worden sein, so der Bericht von United Iran.

Als auf sie geschossen wurde, flohen Ahmadian und die anderen Kolbar. „Mir wurde schwarz vor Augen, ich konnte nichts mehr sehen, hörte aber überall Schüsse“, erinnert er sich. Eine Stunde lang versteckte Ahmadian sich, dann konnte er jemanden am Telefon erreichen.

1.042
Kolbar sind von 2015 bis 2022 im iranisch-irakischen Grenzgebiet getötet worden.

Unzählige Fälle von verletzten und getöteten Kolbars

Als sein Vater und sein Bruder ihn fanden, war er noch bei Bewusstsein. Seitdem ist Ahmadian blind. „Ich kann nicht mehr arbeiten und bin auf Hilfe angewiesen“, sagt er leise.

Khalid Ahmadian ist seit sechs Jahren blind.

© privat

Doch Konsequenzen für die Schützen bleiben aus, kein einziger Grenzsoldat wurde bisher für die Tötungen und Verletzungen belangt. Zwar haben einige Familien Anzeige gegen Beamte erstattet, doch nach Angaben von Anwälten wurde bisher kein einziger Fall bearbeitet. Dabei werden Fälle wie der von Ahmadian seit mehr als zwei Jahrzehnten von Menschenrechtsorganisationen wie dem Kurdischen Menschenrechtsnetzwerk (KHRN) dokumentiert.

Vorstandsmitglied Rebin Rahmani sieht darin eine systematische Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung, die seit Jahren von der iranischen Regierung ausgeht. „In der kurdischen Region gibt es seit Jahrzehnten eine regierungsfeindliche Opposition. Deshalb lässt die Regierung ihre Grenztruppen die Kolbar angreifen.“

Das Problem ist auch ein wirtschaftliches. „Die Auswirkungen der internationalen Sanktionen gegen die iranische Regierung treffen vor allem die ohnehin verarmte kurdische Region“, sagt der iranisch-kurdische Journalist Kaveh Ghoreishi.

Die Kurden selbst können an der Situation wenig ändern, da sie keine politischen Parteien gründen dürfen. Dennoch seien sie ein „sehr wichtiger Teil der Zivilgesellschaft“, sagt Ghoreishi, denn sie hätten eine aktive Rolle bei der Entstehung und Entwicklung der Proteste gegen das iranische Regime gespielt.

Die einzige Lösung für das Leid der Kolbar, sei die Abschaffung dieser Tätigkeit, sagt Ghoreishi. Dazu müsse die Regierung aber Arbeitsmöglichkeiten und bessere Lebensbedingungen in den kurdischen Gebieten in Iran schaffen.

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